Extraimpoldation

Extrapolation gilt heute als eines der klassischen Alben des britischen Jazz, auf dem „Jazz und Rock paradigmatisch fusioniert“ werden.

Ulrich Kurth

Es gibt Alben, die erscheinen nicht, sie explodieren geradezu von unseren Ohren. Eines davon ist Birds of Fire. Andere Alben implodieren, es braucht einige Zeit, bis die Schallwellen – und somit die wahre Bedeutung der Musik beim Zuhörenden ankommt. Extrapolation ist das Debütalbum von John McLaughlin. Es erschien zunächst bei Marmalade Records in 1969; auch aufgrund des Zusammenbruchs dieses Labels wurde das Album international erst seit 1972 vertrieben.

Es handelt sich um eines der originellsten und prophetischsten Alben, das im britischen Jazz zum Übergang in die 1970er Jahre entstanden sei.

Eric Thacker

Gleichfalls in 1969 erschien das Album Hot Rats von Frank Zappa, das ist das erste Jazzrock-Album. Hier wie dort ist die Verwendung elektrischer Instrumente, die exzessive Nachbearbeitung der Aufnahmen im Studio, die Auflösung der Liedstrukturen zugunsten freier Improvisation sowie die lange Dauer der einzelnen Musikstücke charakterisieren das Album. F.Z. hat den Rhythm and Blues mit dem Jazz fusioniert.

Das Album ist nicht nur rhythmisch und harmonisch flüssig, sondern benutzt sowohl modale Harmonien und das Time, no Change-Prinzip als Basis der Improvisationen, wobei die Komposition Tempo, Tonart und Stimmung festlegt, aber die Wahl der Akkordwechsel der spontanen Wechselwirkung von Interpret und Begleitmusikern überlässt.

Stuart Nicholsen

Für sein Debütalbum wollte McLaughlin zunächst im Trio mit Holland und Oxley aufnehmen; da Holland aufgrund des Drängens von Miles Davis nach Amerika ging, trat Brian Odgers an seine Stelle. Relativ kurzfristig wurde entschieden, das Trio um John Surman zu erweitern. Und dies sollte das Konzept grundstürzend verändern.

John Surman dominiert das Album stellenweise.

Scott Albin

Das Thema das Titelstücks Extrapolation ist bebopartig und wird nach einer Einleitung durch Odgers und Oxley, die von Ferne an die Arbeit von Charlie Haden und Billy Higgins in Lonly Women denken lässt, zunächst im Unisono von Gitarre und Saxophon vorgestellt. It’s Funny erinnert thematisch, insbesondere in der Saxophonlinie, an Goodbye Pork Pie Hat von Charles Mingus und stellt das Können des Studiomusikers Brian Odgers heraus.

Extrapolation ist eines der großartigsten Alben, die je in Europa aufgenommen wurden […] Es ist essentiell und zeitlos.

Richard Cook

Arjen’s Bag spielt auf den niederländischen Bassisten Arjen Corter an, die Hülle von dessen Bass sei immer dort, wo man sie nicht erwarte. Ähnlich verhält es sich hier mit der rhythmischen Betonung: Das Stück hat einen 11/8-Takt, den Roger T. Dean in seiner Analyse nach den Akzenten des Schlagzeugers in 4/4 und 3/8 unterteilte. Aufgrund dieser Akzentuierung der ungeraden Metren entstehen hier zwei Pulsgeschwindigkeiten, über die parallel improvisiert werden kann. Später entwickelte McLaughlin das Stück zu Follow Your Heart weiter. Dieses oszillierende „11/8-Metrum geht im nächsten Stück nahtlos in einen schnellen 3/8 Takt über“: Pete the Poet, ein trolliges Stück, war nach dem Lyriker und Sänger Pete Brown benannt. Dort setzte McLaughlin einen kräftig fetten Gitarrenton ein.

Das Album zeigt eine strukturelle Einheit und einen Gruppenzusammenhalt. Neben dem Gruppengefühl ist die Soloarbeit durchweg ausgezeichnet. Mächtig agiert Surman mit seinem rumpelnden Baritonsaxophon und bringe ein wehmütiges Sopran in It’s Funny ein, während McLaughlin sein Instrument wirklich zum Singen bringe.

Dave Hollingworth

This Is for Us to Share hat große Rubato-Bögen, zu denen McLaughlin auf der akustischen Gitarre beeindruckend beiträgt. Losgelöst vom Tempo nutzt Oxley sein Schlagzeug hier, um inspirierende Klänge auf seinen Trommeln und Becken zu erzeugen. In Spectrum konnte Surman nach dem unisono vorgestellten Thema zunächst ein Baritonsaxophon-Solo spielen, bevor ein schnelles Solo der Gitarre folgte. Das Stück geht über in Binky’s Beam. Mit dem Bassisten Binky McKenzie, dem McLaughlin diese Komposition des Albums widmete, spielte McLaughlin unter anderem in Pete Browns Gruppe Huge Local Sun. In den Liner Notes pries er Binky McKenzie als einen der besten Bassisten; er war damals zusammen mit seinem Bruder Bunny verurteilt worden, nach Ansicht des Gitarristen ungerechterweise. Binky’s Beam ist ein Blues im11/8-Takt.

McLaughlin hat mit Extrapolation sein eigenes Denkmal gebaut hatte, das bis heute stabil und weithin sichtbar in der weiten Landschaft der Jazz- und Fusiongitarristik steht, ein Monolith, an dem niemand vorbei kommt.

Alexander Schmitz

Ähnlich wie in diesem Stück überlagert Oxley auch in Really You Know die verschiedenen Metren „mit delikater Leichtigkeit“, wie dessen Biograph Ulrich Kurth feststellt; die Selbstverständlichkeit, mit der Oxley spielt, „verleiht dem Album einen tänzerischen Gestus.“ Das letzte Stück des Albums, Peace Piece, das dem Frieden gewidmet war und zunächst Züge der gleichnamigen Melodie von Bill Evans hat, spielte McLaughlin unbegleitet auf der akustischen Gitarre; auch hier ist jedoch kein hymnischer, sondern ein vergleichsweise aggressiver und „brutaler Zugang“ des Gitarristen feststellbar.

 

 

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Extrapolation, John McLaughlin, 1969

1969 in England veröfentlicht. Aufgrund des Zusammenbruchs dieses Labels wurde das Album international erst seit 1972 vertrieben

Weiterführend Der Musikkritiker Ben Watson bezeichnet Zappas Mothers of Invention als „politisch wirksamste musikalische Kraft seit Bertolt Brecht und Kurt Weill“ wegen deren radikalem, aktuellen Bezug auf die negativen Aspekte der Massengesellschaft. So besehen war Frank Zappa neben Carla Bleys Escalator Over The Hill einer der bedeutendsten und prägendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Die Komponistin führt uns vor Ohren, dass Improvisation ein gesellschaftspolitisches Idealmodell ist. Andere Nebenwege starten mit der Graham Bond Organisation, dem Blues… und diese Abwege münden in suitenartigen Kompositionen. Musikalisch konnte man seinerzeit auch Traffic nicht genau einordnen. Es ist eine einzigartige Fusion so vieler unterschiedlicher Stile, was die eine Hälfte der Freude ausmacht; die andere Hälfte ist das Mysterium, wie es die Combo mit den wechselnden Besetzungen von Anfang bis Ende so wunderbar hinbekommt. Fast alles, woran Steve Winwood beteiligt war, hatte etwas für sich, aber in all den Jahren hatte er seine besten Momente mit Traffic, mit zeitlichem Abstand lässt sich hören, wie gut diese Musik gealtert ist. Zu hören ist auch auf „Bitches Brew“ ein kollektives Musizieren, das Miles Davis als einen Komponisten erweist, der individuelle Freiheit mit respektvollem Zuhören vereint. Aus dem schillernden Klangbild der Lounge Lizards brechen reizvolle Statements hervor. Anton Fier belebt ein groovendes Energiefeld mit abstrakter Vieldeutigkeit. Spannend sind John Luries freidenkerische Dekonstruktionen der Jazz-Strukturen; Fake Jazz erscheint plötzlich als das Eigentliche!

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