Steigen und Fallen der Bilder

Der Bonner Sinologe Wolfgang Kubin veröffentlichte im Jahr 2000 zwei wunderschöne Gedichte:

DAS NEUE LIED

VON DER ALTEN VERZWEIFLUNG

Bitte

keine Nachrichten mehr

von Krieg und Vertreibung.

Wir sind wehleidig genug.

Auch grundlos vergießen wir Tränen,

nicht allein bei Häutung, Schlachtung

oder Speisung der Zehntausend

mit eigenem Fleisch.

Bitte

nichts mehr von Todesspringern,

von Weltenbrand und Depression.

Wir ziehen das Nichts vor,

vor dem Leben und nach dem Tod,

vor dem Zweifel und nach der Verzweiflung.

Bitte

keine Fragen mehr nach Sinn und Verstand.

Ein Stein ist glücklicher,

eine Wolke und ihr Luftzug.

Wenn nicht ungeboren oder überlebt,

möchten zungenlos wir sein

ohne Auge und Ohr.

In poetischer Polemik wird der Eskapismus als Verdrängung des Lebens verurteilt.

Es ist indirekte, aber wirkungsvolle Anklage falschen Lebens. Das Gedicht schreit nach Analyse der Welt und ist ein Plädoyer für eine bessere Welt, um die wir bemüht sein sollen.

SCHLOSS WIEPERSDORF (S. 38) ist das andere, tiefere. Die Dichte der Bilder – in allen Versen! – ist überaus stark. Diese (Gedanken-)Bilder erzeugen ein Feld von Interpretationsmöglichkeiten zwischen Natur und Mensch, Leben und Tod.

SCHLOSS WIEPERSDORF

Für Yang Lian

Jeder Baum ist eine Uhr,

jedes Gras ein Spiegel.

Die Gräber wollen sommers gen Himmel,

sie fallen aufwärts

durch die Bilder

der ersten Stunde zu.

Die zum Himmel und durch die Zeit fallenden Gräber evozieren die ganze Geschichte eines Menschen, der in der Natur um ihn herum aufgehoben ist, und assoziieren sogar den Auferstehungsgedanken, die Überwindung des Todes, die allerdings nur gedanklich gelingt; das Gedicht ist frei von religiösem Glauben, denke ich. Melancholie, wie Joachim Sartorius sagt, ist nur ein Aspekt deines realistischen Sehens und Denkens. Dein poetisches Sehertum empfinde ich in diesem Gedicht als vollkommen frei von elegischen Spuren. Die Widmung für Yang Lian ist auch inhaltlich absolut passend (mal ganz abgesehen von biografischen Details: Wiepersdorf, Yang Lian). Die philosophierte Physik (das Aufwärtsfallen der Bilder zurück in die erste Stunde) erinnert mich an das großartige Gedicht Yang Lians, „Die Höhe des Traums“, wo die ewige Musik des Seins dem Tod entgegengestellt wird. Allerdings sieht Yang Lian in seinem tatsächlich eher elegischen Gedicht den Tod am Ende als Erlösung, die wir annehmen sollten. 

***

Das neue Lied von der alten Verzweiflung, von Wolfgang Kubin. Bonn (Weidle Verlag) 2000

Weiterführend →

Für das Projekt Kollegengespräche hat A.J. Weigoni einen Austausch zwischen Schriftstellern angeregt. Auf KUNO ist diese Reihe wieder aufgelebt. Die Redaktion weist daher gern auf den elektronischen Briefwechsel zwischen Wolfgang Kubin und Ulrich Bergmann hin.