Das sind daktylische Lieder, jambische Gänge, manchmal Gang und Tanzlied in einem, in jedem Fall, von semantischen Festlegungen der Metrik einmal abgesehen, sehr musikalische Texte!
Es sind leichte und schwerere Tänze und Gesänge. „Die Baumzeile fensterlängs schenkt“ ist so ein Gedicht der Schwebe zwischen Schwere (Winter) und Leichtigkeit (Frühling) – da wachen die Menschen nach dem (leichteren) Winter auf, aber das Gedicht meint nicht nur jahreszeitliche Metamorphosen, sondern entlarvt sich, vor allem zum Ende hin, als metaphorische Anspielung auf Lebensentwicklungen, Lebensverarbeitung: dann atmen die menschen winternebel und sammeln winter… und suchen spuren… und ziehen spuren die nicht überdauern… das geschieht in den Menschen, vielleicht aktiv, bewusst – und dann wieder die Gewichte von außen, die Geschichte, das Schicksal, der Winter zum Frühling: Neugeburt, Selbstgeburt – aber auch von außen er-schwert oder er-leichtert: dann rafft das jahr seine röcke und eilt sich… und rafft seine zeit … und zerrt die gedanken … und zwingt sie zum schnelleren lauf an der kette… Freiheit und Zwang in einem Bild vereint, aber mehr Zwang, mehr Schwere als Leichtigkeit. Und so erinnern solche daktylisch geprägten schweren Tänze an Gustav Mahlers Lieder, nur dass Diels Rhythmus schneller, härter gelesen werden kann, oder auch zart trotz schwerer Gewichte. Das Gedicht geht vom Ich aus, dann über die Menschen, das lyrische Ich wird aufgelöst in Distanz, Selbstdistanz, und am Ende wird auch diese Distanz noch einmal distanziert, die Kraft, die an oder in uns sich vollzieht, wird übergeordneter, abstrakter, es ist nun die Zeit, der Prozess an sich, der sich in uns spiegelt – oder gewinnen wir unsere Prozesse, die gegen uns geführt werden, weil wir sie reflektieren, weil sie uns bewusst werden, sodass wir den Prozess der Veränderung gegen uns selbst führen können? Ich vermute: Nein. Zu schwer wiegt im Gedicht das Verschwinden (der Verlust?) des lyrischen Ichs. – Trotzdem geh ich am Ende dieses Gedichts noch einmal an den Beginn und sehe, dass mir die Natur meine Zeit als Geschenk vor die Füße legt, sodass ich auf ihr gehen kann, wenn ich will. Es bleibt in der Schwebe, denn die Musik der Verse ist schwebend, der Nebel des Winters, von dem in der dritten Strophe die Rede ist, verweist auf Erkenntnisunsicherheit. –
Ich frage mich, ob die kursiv gesetzten Verse (das fenster war und das haus /…) noch zum Gedicht gehören. Wenn sie dazugehören, hat man die Rückkehr zum Beginn des Gedichts (das lyrische Ich findet sich wieder, stellt sich allerdings sogleich wieder in Frage: Alles war schon vor ihm da, und, was mir ganz besonders gefällt, alles ist für das lyrische Ich nur da, wenn das lyrische Ich da ist – ein schöner erkenntnistheoretischer Gedanke, solipsistische Koketterie, obwohl, ganz am Schluss, der der alles erdachte, vor sich selbst da war – Gott möchte ich hier nicht annehmen -, sodass ich, der ich mich selbst erschaffe, schon angelegt bin, ehe ich da bin. Jedenfalls verstehe ich das Gedicht am Ende in solcher Erkenntnisschwebe, ein Nebeltanz ist das, nicht die Schwere eines Gottes, es sei denn der Gott bin ich: Wer sich selbst erschafft, muss ja vor sich selbst schon dagewesen sein. Das gefällt mir sehr gut.
Gut zu dem eben überdachten Gedicht passt der EPILOG „Menschen können das“: Er enthält eine spielerische Umkehrung des Gedankens der Selbsterschaffung. Das Gedicht bricht ab, wenn der Tod eintritt, aber der Abbruch ist (in dem Gedicht) gesetzt. Spielerisch. Auf der anderen Seite das Festklammern am Leben. Das geliebte Leben. Das schwere Schicksal des Todes, des Sterbenmüssens kann nur spielerisch besiegt werden, formal überwunden werden in der Pointe des Schlusses, des Abbruchs.
Und schon zu Beginn des Gedichts wird Sterbenmüssen als Fähigkeit bezeichnet, im Titel steht: Menschen können das ..einfach verschwinden / plötzlich einfach nicht / mehr da sein weg sein / … Das Dasein wird am Ende des Gedichts ins Elliptische gerückt, ist also formal noch da, erlebt vielleicht nur eine Metamorphose in ein anderes Dasein… Aber jetzt spiele ich als Leser, und es mag sein, dass überhaupt der Leser als Dialogpartner des sich selbst erschaffenden lyrischen Ichs ein sich selbst erschaffendes lyrisches Du darstellt, zum lyrischen Ich verwandelt.
Der Titel, „Wesland“, untestützt meine Interpretation: Dieses Schaukelspiel des Lebens, die Ambivalenz von Sein und Nichtsein.
Ein riesiges Lebens-Ja gegen das Nein des Todes steht in den Gedichten. Auch viel ‘Leichtes’, Tanz, Musik, Sirtaki, und auch Pathos (wie der Untertitel des Zyklus verrät), eine leidenschaft-liche Stimme für das Leben, auch eine kleine Liebeserklärung an die Stadt, an Bonn, das deutlich aufscheint, aber nie aufdringlich wird, nie allzu vordergründig beschworen wird, viele kleine Beobachtungen im Alltag, die ins Große (manchmal) geweitet, gedeutet werden, Bilder die spielen – alles in allem, trotz der sinnlicheren Stellen in den Gedichten, eine Tendenz zum Diskursiven, zum Reflektorischen, vita contemplata, gedankenlyrische Sinnlichkeitsbilder, Gedankenbilder, musikalische Philosopheme, …
Durs Grünbein fällt mir dazu ein. Aber Grünbein ist viel epischer, zieht zuviel Bildung in die Verse (jedenfalls in seinem letzten Gedichtband Nach den Satiren); da ist Diel sinnlicher, leichter im guten Sinne, nicht so geschichts-verhaftet, ich-göttlicher, nicht so physisch-biologistisch nüchtern.
Wenn das der Anfang ist, denn Marcel Diel ist ja noch jung, dann bin ich sehr erwartungsvoll für das, was kommen wird – ich traue ihm viel zu: Noch kühnere Sinnlichkeit, verantwortetes Neuland, metrische Spiele (andere Tänze, andere musikalische Gesten), und natürlich andere Themen, neue Bilder, und das alles zusammen in neuer Verdichtung.