Am 9. Mai 1950 hielt der damalige französische Außenminister Robert Schuman in Paris eine Rede, in der er seine Vision einer neuen Art der politischen Zusammenarbeit in Europa vorstellte – eine Zusammenarbeit, die Kriege zwischen den europäischen Nationen unvorstellbar machte.
Die Geschichte der europäischen Völker hatte sich aus uralten Herkünften und unbegriffenen Schicksalen zu einem Rattenkönig widerstreitender Interessen so schlimm verkettet und verfilzt, daß alles Auseinanderzerren und Schlichten, alle Schiedsgerichte und Reformen eine gutgemeinte Farce blieben. Niemand glaubte mehr im Ernste an solche homöopathische Heilung unsrer europäischen Krankheit. Es gab nur eine Rettung, das uralte Mittel des Blutopfers. Der Instinkt der Massen hat den Sinn begriffen und riß ein Volk nach dem anderen in den mörderischen Krieg.
Es ist eine von Vordergrundsinteressen eingegebene Fiktion, die Schuld am Weltkriege einem einzigen Volke wie dem verhaßten Engländer zuzuschieben. Die Politik steht mit dem Sinn und Gang der Weltgeschichte in sehr losen und sekundären Zusammenhängen; sie ist immer nur die Maske und nicht der Geist, Regie aber nicht Dichtung. Es ist traurig, daß selbst dem besonnenen Deutschen dieser Gedanke so fremd ist, daß er ihn als Blasphemie und als Verrat an der deutschen Sache empfindet. »Wirtschaft, Horatio, Wirtschaft!« Nein und tausendmal nein, wir Deutsche kämpfen nicht um unsern Platz an der Sonne; um dieses Interesse würde die Welt nicht in Flammen aufgehen. Der Krieg geht um mehr. Europa ist krank am alten Erbübel und will gesund werden, darum will es den furchtbaren Blutgang. Wir, die draußen im Felde stehen, fühlen am tiefsten, daß diese grauenvollen Monate nicht nur – physiologisch geredet – eine politische Kräfteverschiebung bedeuten werden, sondern – geistig gesehen – ein tiefes völkergemeinschaftliches Blutopfer darstellen, das alle um eines gemeinsamen Zieles willen bringen. Selbst der gemeine Soldat draußen ist mit allem politischen [und hetzerischen] Geschrei nicht zu überreden, den französischen, belgischen, russischen oder englischen Soldaten zu hassen. Er würgt den Gegner, aber er haßt ihn nicht. Wo Haß besteht, wendet er sich bezeichnenderweise nur gegen die Politiker, die [paar Großfürsten und Lords und Schreier] falschen und unehrlichen Regisseure des Krieges, wie wenn diese das hehre Duell, das sich Europa liefert, durch ihre [gemeinen Ränke] plumpen Hände entwürdigten. Es ist auch nicht anders. Die Politiker sind nichts als Werkzeuge, deren sich der Wille der Völker bedient, die Mörder, die er dingt. Das ist keine sophistische Verdrehung, sondern eine Thatsache, die wie ein Glückszeichen über den kämpfenden Armeen steht. Der Haß ist unrein. Die Welt aber will rein werden, sie will den Krieg. Welcher Europäer möchte heute den Weltkrieg ungeschehen wissen? Nicht einmal der Engländer! Das Volk hat Instinkt. Es weiß, daß der Krieg es reinigen wird. Um Reinigung wird der Krieg geführt und das kranke Blut vergossen.
Eines fehlt heute freilich in Europa: das freie, öffentliche Forum, auf dem solche Gedanken im »öffentlichen Interesse« gesprochen werden dürfen; denn das öffentliche Interesse steht heute dem politischen noch zu nahe. Aber viele tragen solche Gedanken still und froh in sich; es gibt ein geheimes Europa, das vielwissende, alles hoffende Europa der geheimen Geister, den Typ des »guten Europäers«, den schon Nietzsche entdeckt und geliebt hat. Hier schlägt das Herz der Welt, überschrien vom Vordergrundgeschrei der Tagesgeister, nur hörbar dem, der in der Nacht, – vielleicht in einer Biwaknacht – das Ohr an die alte, europäische Erde legt.
Die Liebe zum guten Deutschtum muß heute verschränkt gehen mit der Liebe zum guten Europäertum. Nur mit ihr und durch sie wird Deutschland das Jahrhundert haben, das es sich ersehnt. Die Grenzen sollen nicht neu gesteckt, sondern gebrochen werden. Die Liebe zum europäischen Gedanken ist das Zeichen, in dem allein Deutschland siegen kann.
Auch Asien ist heute nur mehr eine europäische Provinz, der Resonanzboden der europäischen Thaten. Europa ist zu klein, um den ungeheuren Aktions radius des europäischen Willens aufzunehmen; so gerät Asien hinein in den europäischen Blutkreislauf. Vielleicht wird das übermütig-gewissenlose Japan noch einmal eine Hand des europäischen Mannes. Vielleicht einmal. Heute weiß die rechte Hand nicht, was die linke thut.
Alle alten Religionen sind heute Vergangenheit oder bilden eben noch eine Gegenwart, die schon Vergangenheit ist. Zwischen dem Moder dieses Sterbens wächst ein neuer Gedanke, an dem schon ein Jahrhundert mit sehnsüchtigem Instinkt gearbeitet hat und für den es in Revolutionen [und Kriegen] geblutet hat: der europäische Gedanke, der heute in keuscher Majestät über alle vergangenen Religionsformen aufragt. Dies gerade heute auszusprechen und bei solchem Namen zu nennen, inmitten des wütenden und unwürdigen Nationengekläffes, mag wie Ironie klingen; gerade darum muß es heute gesagt werden. Das gestaltlose, aller Gewalt voraufgehende Wissen, der Gedanke lebt lange, bevor er Form, Lebensform wird; der Geist geht der Gestalt voraus.
Die Lust des reinen Wissens um die Dinge, die Erlösung vom Stoffglauben, Beherrschung und Überwindung des Stoffes, das Herrentum des Europäers, der seine Hand zwischen die Maschen der Natur schiebt, die Macht zu »binden und zu lösen«, Paradigma und Erfüllung aller alten Religionswunder, ihre Überwindung durch keusches Wissen, – das ist die neue Zeit, das neue, endliche Europa. Diese dunklen schwankenden Worte werden dem Nachdenkenden wohl vernehmlich sein. Es ist nicht gut, daraus Manifeste zu schmieden. Erst muß der Krieg den gordischen Knoten, mit dem der Europäer gefesselt war, zerhauen helfen. Der sehnsüchtige [, gute] Europäer hat oft und lange genug an ihm gezerrt und den Knoten gelockert. Ihr Europäer habt nach dem Kriege die Arme frei, – gebraucht sie! gebraucht sie schnell und gründlich, ehe der dumpfe, immer bereite Geist der Reaktion mit trübem Thun Euch anfällt. Unsre soldatischen Sinne sind wach und sind geschärft für die Gefahr und für die tausend Möglichkeiten des Sieges und Widerstandes. Laßt uns Soldaten bleiben auch nach dem Kriege, dessen Ende dem Deutschen, dem guten Europäer niemals fraglich sein kann. Denn in diesem Kriege kämpfen nicht, wie es in Zeitungen steht und wie die Herrn Politiker sagen, die Zentralmächte gegen einen äußeren Feind, auch nicht eine Rasse gegen die andre, sondern dieser Großkrieg ist ein europäischer Bürgerkrieg, ein Krieg gegen den inneren, unsichtbaren Feind des europäischen Geistes. Das muß einmal ausgesprochen und begriffen werden; dann wird man auch begreifen, daß wir nach dem entsetzlichen Blutopfer des Krieges den inneren Feind, den Ungott und Unhold Europas, die Dumm heit und Dumpfheit, das ewig Stumpfe mit allen Waffen fort und fort bekämpfen müssen, um zu helleren Klängen, zur Helligkeit des europäischen Typus durchzudringen.
Wir sehen aus bitterer geschichtlicher Erfahrung die bedrohliche Gefahr eines neuen Empire vor uns und mit ihm die immer dienstbeflissene Reaktion, den Überdruß am Kampf, ehe der Sieg und die Reinigung ganz vollzogen sind. Laßt uns wachsam bleiben auch über den Krieg hinaus und die Waffen in der Hand halten, um alles was Frieden will, sich hinlegen will, wieder Kleinheit der Zeit will, nichts mehr will, aufzuputschen und neu zu begeistern für den Kampf um den »Geist Europas«, der nur auf uns Soldaten und Arbeiter, auf unsre Hand wartet.
Ich weiß nicht, ob ich heute zu vielen oder zu ganz wenigen rede. Vielleicht ist das geheime Europa, dem wir angehören, noch verschwindend klein, – vielleicht auch schon tausendmal größer als wir wissen. Uns kümmert die Frage nicht. Heute sind alle Grenzen verwischt, alles dehnt sich in’s Unendliche, alles grenzt an das Absolute. Die Gedanken sind an keinen Ort, an kein Oben und Unten und Neben gebunden. Die Verantwortung für jedes gesprochene Wort ist in’s Ungeheure gewachsen, denn es erreicht heute nicht den Nächsten, sondern den Allerfernsten; der Umkreis der kleinsten und geheimsten Sippe umfaßt die ganze Welt. Die olympische Macht des Europäers, des »Donnerers« und »Allwissenden« ist mehr als ein griechisches, dichterisches Gleichnis.
Warum wir dies alles sagen?
Was wir damit sagen wollen?
Was wir wollen?
Wir wollen, daß das entsetzliche Blutopfer des europäischen Bruderkrieges nicht umsonst gebracht ist. Wir wollen den Rückschlag in das Nichtwollen, Nichtmehrwollen auffangen, den Kriegsball noch einmal vorwärtsschleudern und ihn in das Gebiet des Geisteskampfes hinüberspielen. Dort ist noch alles zu thun, die stärksten Forts zu brechen, ehe der europäische Typus auf ihnen als Herr, als Nietzsches Herrenmensch steht.
Noch ist der Krieg nicht vorbei; aber er wird enden, so, wie wir ihn enden wollen. Der Deutsche lebt immer im Übermorgen. Aber die Stimmen aus der Heimat, die uns im Felde erreichen, sind wenig ermutigend für dieses Übermorgen, das wir erhoffen. Es ist ein trauriges in der Irre Laufen, hüben wie drüben, auch hüben, auch bei uns guten Deutschen. Ich leuge nicht die Nützlichkeit, ja die eiserne Notwendigkeit, heut die politische Maske zu wahren. Wir Soldaten sind die letzten Spielverderber und lieben das Kriegsspiel und den Kriegsernst über allem anderen. Aber wir können über dem blutigen Ernst des Tages den besseren Teil der That, das Ende nicht vergessen, den Anfang und Auftakt zur Geistesherrschaft des neuen, guten Europäers, den kommenden Kampf, der noch mehr Opfer und Tode fordern wird als der blutige Krieg. Wie viel Liebem und Gutem werden wir absagen müssen, wie viel Tempel und Grenzen werden brechen, bis die kühle, keusche Majestät des Europäers Typus, »Religion« geworden sein wird. Bis dahin wird Krieg sein und soll Krieg sein und darf kein Friede über uns Deutsche kommen; denn wir halten das Schicksal Europas in der Hand und werden es nicht geographisch und mit Handelsverträgen und Friedensschlüssen entscheiden, sondern nur im Geisteskampf, der nicht weniger unerbittlich vor uns steht wie einst der blutige Krieg, der über dem entsetzten Europa langsam tagte. Jeder wußte, daß er kommen würde. Und auch heute, glaub ich, fühlt jeder, daß dieser Geisteskampf kommen wird, kommen muß. Möge Deutschland, um Europas willen, für ihn ebenso gerüstet sein wie für den andern Krieg.
Wird es auch wie ein Mann aufstehen?
Das ist die Frage, um die wir uns sorgen und in welche die Klänge aus der Heimat manchen schweren Zweifel legen. Die Aktualität des Krieges bannt hypnotisch die in der Heimat Harrenden. Sie sehen in ihm ein Ziel statt einen Durchgang. Wer heute daheim das Wort ergreift, glaubt biedermännisch, volkstümlich und naiv sein zu müssen – oder zu dürfen. Nur vom Nächstliegenden, Nächstbestliegenden darf geredet werden; alles Andere erscheint dem Deutschen heute als – Luxus, als unvaterländich, womöglich als Ausländerei. Der bramarbasierende und [meist] weinerliche Reim ist heute auch schon wieder Trumph 〈sic!〉. Man denkt wohl, man ist diesen Ton dem »braven Soldaten im Felde« schuldig? Wenn dieser lächerliche Volkston, in Wort und Bild, noch lange weitergeht, stehen wir am Ende des Krieges wirklich als parvenus da: in der einen Hand das Welthandelsmonopol, in der andern eine hohle Nuß. Dann ade unserm europäischem Traum, der Militärunstaat tritt an seine Stelle; Das Siegesgeschrei vor dem Siege.
[Wilhelm Worringer] Man stellte für den jetzigen Krieg [im ›Zeitecho‹] die dualistische Theorie des »Geschlechterkampfes« auf, als wäre es ein Kampf des männlichen Prinzips gegen das weibliche, unsres männlichen Rechtsgefühls gegen die weibliche Hysterie unsrer Gegner. Leider verdirbt [sich Worringer] man sich den Wert dieser allzuverlockenden Problemstellung durch die Unentschlossenheit, mit der [er] man hinter dem politischen Zaun der deutschen Nation stehen bleibt, statt das Problem auf den euro päischen Gedanken einzustellen. Eher wäre es angemessen zu sagen, daß Europa durch diesen blutigen Austrag der Waffen die eigne Hysterie überwinden, die [schädlichen] giftigen und brüchigen Elemente, die dem alternden, in die Irre, Enge gegangenen Europa anhaften, ausstoßen will. Es ändert an dieser Problemstellung und Erweiterung nichts, daß die mannhaftesten Elemente Europas, nämlich die deutschen, auch den mannhaftesten, siegesgewissesten Anteil an diesem Drama haben. Der erste französische Verlust war nicht die Schlacht in Lothringen, sondern der ›Fall Bergson‹, dem in unheimlicher Schnelle ein ›Fall‹ nach dem andern folgte. [Die Ironie will es, daß Bergson kein Franzose, sondern ein [Däne] Pole ist!]
Daß sich Deutschland diesem débâcle gegenüber stärker und gesünder erwies als wir zu ahnen wagten, ist unser großes Lob. Wir zittern es auszusprechen und hoffen es nicht zu früh zu sagen. Die bedenkliche Kriegsliteratur, die heute in Deutschland aufschießt, ist ein trübes Symptom. Jedenfalls scheint es uns ein trügerisches Verfangen, um jenes frühen Lobes willen die zwei kriegerischen Lager Europas dualistisch in Mann und Weib, in Männlichkeit und Hysterie zu teilen. Das Problem liegt tiefer. Der Europäer kämpft in diesem Kriege um seine Gesundung und Zukunft, mit Worringer zu reden, gegen die Hysterie und die al ternden verkalkenden Elemente seines Leibes.
Weiterführend →
Erinnerung wird zunehmend auf neue Technologien ausgelagert. Das Grundproblem der Erinnerungskultur (siehe auch: In eigener Sache), der Zeugenschaft, der Autorschaft, ist die Frage: Wer erzählt, wer verarbeitet, wem eine Geschichte gehört? – „Kultur schafft und ist Kommunikation, Kultur lebt von der Kommunikation der Interessierten.“, schreibt Haimo Hieronymus in einem der Gründungstexte von KUNO. Die ausführliche Chronik des Projekts Das Labor lesen sie hier. Diese Ausgrabungsstätte für die Zukunft ist seit 2009 ein Label, die Edition Das Labor. Diese Edition arbeitet ohne Kapital, zuweilen mit Kapitälchen, meist mit einer großen künstlerischen Spekulationskraft. Eine Übersicht über die in diesem Labor seither realisierten Künstlerbücher, Bücher und Hörbücher finden Sie hier.
Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie einen Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.