Worum geht es in den Texten. die am ehesten als Geschichten zu bezeichnen sind, da sie erzählt sind – wie Erlebnisse oder andere Märchen?
Es geht um Glück und Unglück, um die unglaubliche Ansammlung wenigen Lebens und die glaubwürdige Vielfalt des Todes, es geht um Menschen und Nachrichten um Fußball und rollende Köpfe, um Spiele und Götter, kurz: um die größtmögliche Vielfalt unversöhnlicher Gegensätze und Gedanken, vor allem Gedanken. die in jedem gerade wirklichen Augenblick das ausmachen, was gemeinhin Leben im alltäglichen Wahnsinn genannt wird.
Aus den Bildbeobachtungen, die oft schon phantastische Beobactungen scheinbar trivialer Vorgänge oder Erlebnisse sind, entwickeln sich Gedankengeschichten – und zwar aus den Gedanken über die Gedanken, die bei der Abwicklung der Geschichte trivialer Vorgänge entstehen. Diese Gedankengeschichten streben der realen Absurdität des Erlebens zu, der paradoxen Unmöglichkeit des einfachen Gedankens in einer dem Gedanken chaotisch erscheinenden, mit ihm nicht versöhnbaren Wirklichkeit. Von kafkaeskem Atem angeblasene Erlebnisgeschichten werden von fast mathematisch-philosophischem Denkwerk einer Lösung zugeführt. die eher Un-Lösung ist.
Viele der Geschichten sind Zwiegespräche zwischen einem fiktiven „Real-Ich“-Erzähler und einer seiner realen Fiktiv- Facetten. Unverhoffte Tiefgründigkeit ergibt sich aus dieser Auseinandersetzung des Erzählers mit einem seiner Doppel aus der Palette der multiplen Persönlichkeitsaspekte. Für die Entstehung von Gedanken Ist ja nichts förderlicher als die natürliche Spaltung des “Ich“ in alle ihm nötig oder möglich werdenden Formen – dem Muster der Welt und der Existenz schlechthin entsprechend. Wahrscheinlich kommen Schizophrenie oder MPS 0der Wirklichkeit der (eben nur im Denken möglichen) Göttlichkeit am nächsten, da diese Verfassung eine der Grundlagen, wenn nicht sogar die Grundlage überhaupt des Wesens der Gedanken und letztlich des Denkers ist. Vielleicht ist die Annäherung Wahrheit des Denkens, also Lebens – gewollt oder ungewollt – Nerv und Kern dieses Buches und (fast) aller seiner Geschichten. Seinen Gedankengängen läßt Bergmann die Freiheit, mal auf die Spielwiese, mal in irgendeinen undurchdringlichen Gedankendschungel, mal an sonst gemiedene Abgründe zu führen.
Auch wenn Gefühlvolles oder Intuitives sich kaum im Denkraum einfinden und die Sprache gelegentlich zum Spröden neigt, kommt dies der wirkenden, seltsamen Spannung eher zugute. Spannend sind viele dieser „Denkgeschichten“ wegen ihrer unverhofften Wendungen, ihrer hakenschlagenden Erlebnislinien. Es wäre vielleicht zuviel gesagt, Rudnikovs, pardon, Bergmanns Geschichten machten süchtig, aber doch entsteht immer diese Lust auf „noch eine kleine“.
Quelle: Leo Gillessen, in: KRAUTGARTEN Nr. 36, MAI 2000, 19. Jahrgang I
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Kopflose Handlungen, von Ulrich Bergmann. Verlag R. Wagner. Pyrbaum 1999.
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→ Ein Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit Bruno Kartheuser finden Sie hier.