Das erste Mal hatte er beschlossen, einen ganzen Urlaub (das heißt im Ursprung erlaubte arbeitsfreie Zeit) zeltend zu verbringen. Schließlich kann man ihn nicht gerade als den großen Naturalmenschen bezeichnen. Das können sich andere besser und sie seien an dieser Stelle um ihre grundsätzliche Lebenseinstellung herzlich und tief beneidet. Wenn er ein oder zwei Mal im Jahr eher als Freundschaftsdienst mit zeltete, aber auch nur für eine Nacht, dann war das schon etwas Besonderes. Schon allein die Vorstellung anzukommen, es könnte ja regnen oder Schlimmeres und dabei dann das Zelt aufbauen. In zuerst klammen und dann nassen Klamotten, das war ihm immer ein Gräuel gewesen, nur allein die Vorstellung daran. Nein, das war nicht sein Ding. Auch wenn er vor vielen Jahren mit seiner damals jungen Liebe eine schöne Zeit im Kleinzelt in der Nähe der Dune de Pilar am Atlantik verbracht hatte. Grillen auf der Glut selbst gesammelter Kiefern- und Pinienzapfen. Einige Tage der Schwerelosigkeit. Wein aus der Region, wahrscheinlich viel zu warm, aber er tat seinen Dienst, Genuss und sicher auch Rausch. Mit nächtlichem Gewitter, das eher stimulierend als einschüchternd gewirkt hatte. Jetzt aber ohne eine Liebe?
In seiner Jugend war es noch etwas ganz anderes gewesen. Da hatte man in Nachbars großem Obstgarten, der natürlich inzwischen einem Haus gewichen war, die Planen aufgeschlagen, mit den Nachbarskindern ein Abenteuer. Taschenlampen mit alten Batterien, die irgendwann den Geist aufgaben. Beliebtes Spiel: Zelte flach legen, das war bei der damaligen Konstruktion noch einfach möglich. Die nächtlichen Geräusche, das Rascheln eines Igels auf der Suche nach Schnecken, Früchten und Getier. Sein Grunzen, das klang wie ein Wildschwein. Das Rauschen der Blätter der Apfelbäume. Dann und wann fiel auch mal eine dieser Sündenfrüchte zu Boden (wobei die Österreicher ja glauben, dass Tomaten die eigentliche Paradiesfrucht ist und sie deshalb auch Paradeiser nennen).
Herr Nipp konnte sich erinnern, als sei das alles gar nicht so weit entfernt. Als hätte er es noch vor ein paar Monaten erlebt. Manche Erinnerungen stehen einem als feste Bilder und ganze Spielfilme vor Augen. Er hatte schon oft darüber nachgedacht, ob der Mensch nicht eigentlich ein Erinnerungswesen ist, das gerade aus dieser Position heraus Mensch wird. Die Erinnerung grenzt ihn von anderen Wesen ab. Gibt es auch Tiere und Pflanzen, die im Tag- und Nachttraum wieder und wieder ihre eigene Geschichte durchlebten und verdauen? Und sowieso, das Gehirn funktionierte ihm immer wie das längliche Verdauungsorgan am anderen Ende des Rumpfes, es arbeitet eigenständig und wird eben nicht immer gesteuert. Wie neidisch war er damals immer auf die beiden blondschöpfigen Freunde gewesen, die ihm stetig von den Mädchen umschwärmt schienen, während er sich als Mauerblümchen für das andere Geschlecht fühlte. Wie verliebt er damals gewesen war, für ihn völlig unerreichbar. Das hatten sie ihm alle gezeigt. Erst kürzlich hatte er sie wieder gesehen, eine erwachsene Frau, reizlos. Er hatte sich von einem Moment zum nächsten nicht mehr vorstellen können, was passiert war, hatte das erhaltene Bild des Mädchens nicht in Verbindung bringen können mit dem existenten Geschöpf ihm gegenüber. Menschen verändern sich und die rosarote Brille der Verliebtheit schwächt so manche Schwäche ab. Aber wahrscheinlich hätte er sich damals auch zum völligen Trottel gemacht, nur um in ihrer Nähe sein zu können. Wahrscheinlich ging es auch heute noch so. Die Menschen verändern sich nicht. In manchen Punkten. Aber letztlich hatte er sich nicht weiter abgemüht, bemerkt, dass die Äußerlichkeiten mehr zählten, als das was ihn interessierte. Jene innere Schönheit, jene Gedanken, die zu tauschen waren. Das Einverständnis im Sehen und Erleben. Eine Nähe, die so tief berührt, als wäre sie symbiotisch. Eigentlich sollte man sich weniger schwerwiegende Gedanken über das Früher machen, die verpassten oder vergebenen Chancen sowieso. Man stelle sich vor, es hätte damals geklappt, er wäre mit dem Mädchen zusammen gekommen – schon allein der Gedanke, heute mit dieser Frau, die mit jedem Wort eine tiefe und unerträgliche Langeweile ausströmte, deren innere Schönheit er nicht finden konnte, auch wenn sie sich oberflächlich gesehen körperlich sicher gut gehalten hatte, zusammen zu leben, war ihm ein Graus. Wahrscheinlich wären dann drei Kinder und ein Hund die Folge gewesen, ein eigenes Heim nach Baukastensystem. Und Urlaube auf Mallorca im Hotel mit All-inclusive.
Nein, er hätte sicher einen großen Fehler gemacht, dann lieber eine fehlerhafte Partnerin, die sich für nichts richtig entscheiden kann und wenn dann doch, so absolut und heftig, dass es schmerzt. Die persönlichen Mängel sollten nicht gefüllt werden müssen mit Kleidung, vorzeigbarem Haus, schnittigem Auto und dem dicken Inselurlaub. Strandresort mit Programm. Irgendwann vielleicht auch noch mal ein Abstecher nach Island, auch dort ließ es sich sicherlich komfortabel übernachten. Mit diesem letzten Gedanken schlief er auf seiner aufblasbaren Matratze in den Schlafsack gemummelt ein.
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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, dokumentiert auf KUNO 1994 – 2019
Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus). Über die historische Aufgabe von Herrn Nipp aus Möppelheim.
Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.
Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421