Traurige Clowns

Stellen Sie sich Kurt Weill vor, der uns das Vorkriegsberlin ins Gedächtnis bringt, während ein Falsettsänger sich durch jedes Stück kreischt, quiekt und quäkt wie ein umherstreifender Irrer, dann haben Sie einen Begriff davon.

Tim Arthur

Auch wenn es seit den 1970-er Jahren etwas aus der Zeit gefallen ist, The Tiger Lillies veröffentlichen überwiegend Konzeptalben. Häufig beziehen sie sich dabei auf literarische Vorlagen wie beispielsweise Shockheaded Peter oder The Matchgirl. Mein Lieblingsalbum behandelt das Zirkusleben. Auch hier thematisieren sie Prostitution, Perversion und Blasphemie und verbinden das Kabarett und Vaudeville mit dem Straßentheater.

Der Legende nach fand sich die Band über des Sängers und Quetschkommodenspielers Martyn Jacques. Der Schlagzeuger Adrian Huge und der Bassist Phil Butcher waren die einzigen, die sich auf die Anzeige meldeten und formten das Konzept und den Stil der Gruppe bis 1995, als Adrian Stout Phil Butcher ersetzte. Es wird kolportiert, der Bandname entlehne sich bei einer ermordete Prostituierten aus Soho mit einer Vorliebe für Tiger-Outfits, doch  Jacques widerspricht dem und erzählt, er sei einfach durch ein Bild an seiner Wand dazu inspiriert worden. Dennoch  thematisieren die Truppe Prostitution, Perversion, Mord, Schmutz und ähnliche Thematiken. Auf distanziert ironische Art spielen die Texte häufig bewusst mit Provokationen.

Das Album mit den Circus Songs, die von den extravaganten Lillies aufgenommen wurden, ist einer beständigsten, raffiniertesten, atmosphärischsten und zugleich zurückhaltendsten Werk dieser Combo. Kein Elefantenmensch trampelt mit voller Wucht durch den Raum, dieses Album bleibt ein entschieden langsam brennendes Vergnügen, das aus überraschend subtilem Songwriting und gedämpfter Instrumentierung besteht. Ihre Bandbreite zeigt die Band mit den ausgewählten Coverversionen:

Send in the Clowns, ein Sondheim-Standard ausgesprochen kommt ausgesprochen minimalistisch und düster daher. Passen zu diesem Trio, dass eher minimalistisch daherkommt und das Falsett von Jacques in den Vordergrund rückt.

Danced All Night (aus My Fair Lady) ist eine erstaunliche Ergänzung und bietet der Combo eine beeindruckend geschmackvolle Interpretation des Originals, die am Ende zu einem Sound führt, der der traditionellen, von Akkordeons geführten Volksmusik nahekommt. Material wie dieses scheint seit dem Wirken von Kurt Weil in einer Art zeitlosem Vakuum zu existieren und könnte in den 1920-er auf genau die gleiche Weise aufgeführt worden sein. Aber Achtung, nostalgisch ist das keineswegs.

Circus Songs changiert entschlossen zwischen Punk und Polka. Es ist ein Paradebeispiel für ein Konzeptalben, bei dem das Material im Laufe der Zeit immer stärker wird und insbesondere die letzten vier Songs nahezu zeitlos schön sind. Pretty Lisa bietet eine der fesselndsten Gesangsdarbietungen von Jaques, die dieses unkomplizierte, hübsche Liedchen in die Gefilde klassischer zweiminütiger Erzählkompositionen aller Zeiten erhebt. Es gelingt dem Trio alle Themen und Charaktere des Albums für einen Moment der Abrechnung zusammenzubringen, wobei die Texte das grausame Herz dieses Zirkus treffen, einen Ort, an dem „nichts ganz so ist, wie es scheint“. Als Höhepunkt offenbart sich Pall Bearers, ein intensiver Song, der die Bandbreite des Gesangs von Jacques aufzeigt und gleichsam unter die Haut.

Trotz des hochstilisierten musikalischen Ansatzes bleiben die Lillies eine der unglaublich seltenen Acts, bei denen man sich darauf verlassen kann, dass sie immer neue Varianten finden, die immer gleichen Ideen umzusetzen. Wer keine Spannung in sich selbst verspürt, darf darauf gespannt sein

 

 

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Circus Songs, The Tiger Lillies, 2000

Weiterführend  Rhythm & Blues lebt davon, dass die Ambivalenz bewahrt wird. Dieses Album wurde veröffentlicht, als Country noch Country war, es gab kein Alternative, was das Rätsel aufgab, was genau man hörte. Die Cowboy Junkies nahmen Blues, Country, Folk, Rock und Jazz und verlangsamten es stark und schufen dabei etwas Neues. Wir betrachten die Geburtshelfer der Americana. Des Weiteren eine Betrachtung des tiefgründigen Folk-Songs: Both Sides Now. Wahrscheinlich hat selten ein Musiker die Atmosphäre einer Stadt so akkurat heraufbeschworen wie Dr. John. Die Delta-Blues-Progression des Captain Beefheart muss dahinter nicht zurückstehen, eine gute Einstimmung für sein Meisterwerk Trout Mask Replica. Wir lauschen der ungekrönten Königin des weißen Bluesrock. Und dem letzten Werk der Doors. Unterdessen begibt sich Eric Burdon auf die Spuren vom Memphis Slim. In der Reihe mit großen Blues-Alben hören wir den irischen Melancholiker. Lauschen dem Turning Point, von John Mayall. Vergleichen wir ihn mit den Swordfishtrombones, von Tom Waits und den Circus Songs von den Tiger Lillies. Und stellen die Frage: Ist David Gilmour ein verkappter Blueser?

Inzwischen gibt es: Pop mit Pensionsanspruch. Daher auch schnellstens der Schlussakkord: Die Erde ist keine Scheibe