Großstädte haben den großen Nachteil, dachte Herr Nipp, dass man sich als grundweg orientierungsloser Mensch in ihnen verlaufen kann, den Weg nicht mehr findet und letztlich haltlos strandet.
Man hatte ihm auch von den großen Vorteilen erzählt, den Möglichkeiten und vor allem der, wenn man denn will, immer präsenten Kultur in allen möglichen Ausfärbungen und Nischen. Als offizielle und freie Theaterszene, Museen und Galerien, hunderte von Ateliers, in denen Künstler vor sich hin pinselten und meist vergebens darauf warteten, entdeckt zu werden, einige bis ins hohe Alter den Traum von gewisser Berühmtheit träumend. Immer war etwas los, auf den U-Bahnhöfen wurde Musikgeschichte geschrieben oder redupliziert.
Herr Nipp schob diese Gedanken schon den ganzen Tag mit sich herum, während er die Straße suchte, in der angeblich sein alter Studienfreund wohnt. Dieses Grübeln über Groß- und Mittelstädte, über die Kultur und Verkehrssysteme, über die Anonymität und die stetige gesellschaftliche Forderung nach Glück und Erfolg, hatte ihn ganz vergessen lassen, dass er schon mehrere Stunden immer wieder durch Straßen lief, die ihm irgendwie bekannt vorkamen und mit jedem Schritt bekannter wurden. Ja, er hatte sich einfach verlaufen.
Es ist nicht gerade ehrenhaft, andere Leute nach dem Weg zu fragen. Die Antwort kann manchmal sehr schlimm ausfallen, so auch bei Herrn Nipp: „Nein, die Straße gibt es in unserem netten 800-Seelendorf nicht, aber gar nicht weit von hier ist eine größere Stadt. Da gibt es die Straße, mit Sicherheit.“
Herr Nipp setzet sich umgehend in seinen Wagen und lenkte dreieinhalb Kilometer weiter auf die größere Stadt zu. Tatsächlich fand er sehr schnell das Häuschen und wunderte sich, warum das in diesem 1200 Seelenort so viel einfacher war.
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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019
Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.
Weiterführend →
Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.
Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421