„Bye, bye, Biby, bye, bye…“ – Erinnerung an Josef „Biby“ Wintjes

 

Ich habe Biby Wintjes nie gesehen. Im Sommer 1994, ich war achtzehn, war ich auf Umwegen mit Bi­bys „Im­pressum“ und dem „Nonkonformistischen Literarischen Informationszentrum“ in Bottrop in Kontakt gekommen. Ich ließ mir ein Probeex­em­p­lar des „Impressum“ kom­men, las es von vorne bis hinten durch und war entzückt. Tippte sofort einen Brief in ei­­nem Stil, in dem man, wie ich dachte, Her­ausgeber anschrieb: „Sehr geehrter Herr Wint­­­jes, nach Ansicht der Probeausgabe des ‚Impressum‘, das Sie mir zugesandt haben, ha­­­be ich mich entschlossen, es zu abonnieren. Bitte schicken Sie mir eine Rech­­­nung. Mit freundlichen Grüßen.“ Und da­rauf­hin war ein dickes Ku­vert ein­getrudelt, mit Hand be­schriftet und bemalt, mit Janosch-Stem­peln vorne drauf und zig bunten Zettel­chen und Heft­chen innen drin sowie einem über­schwenglichen Brief: „Lie­be Gundi, freue mich wahn­sinnig über deine Bestellung! Al­les Liebe und vielen Dank! Dein Bi­by.“ Rumms! Was war das? Das war der Ton des lite­ra­rischen Undergrounds. Der mich voll ins Herz ge­­trof­fen hatte. Ich warf den steifen Brief­kopf und den „sehr geehrten Herrn Wintjes“ über Bord und begann eine äußerst fruchtbare und herzliche Brieffreund­schaft mit Biby. Er nannte mich „Gundi“, ver­sorg­te mich mit Büchern aus seinem Alterna­tiv-Anti­quariat, und ich machte Werbung fürs „Imp“, wie es alle nannten, und die Versand­buch­hand­­lung. Eine neue Welt hatte sich vor mir auf­getan…

Kurz davor hatte ich die Musik der Sechzigerjahre für mich entdeckt. Ich trug damals die Haare lang, frisierte mir einen Mittel­scheitel, durchstöberte Mamas Kleiderschrank nach Schlaghosen, bunten Miniröcken und Blusen mit Haifischkragen von anno dunnemals und fühlte einen Rausch, den ich zuvor noch nicht gekannt hatte. Musik, Kunst, Mode, Film dieser Jahre – alles schien zu glühen.

Und dank Biby sprang dieser Funke nun auch auf die Literatur über. In den ersten Imps, die ich las, tobten Schlachten darüber, was „Social Beat“ eigentlich sein sollte, man fuhr Geschütze auf wie „die Beats der sechziger Jahre“ (sic! Diesen Fehler im Text von „Krachkultur“-Herausgeber Brinkmann erkannte ich damals schon), Jack Kerouac, Char­les Bukowski, William S. Burroughs, Allen Ginsberg, Norman Mailer, Henry Miller. Ich bat Bi­by, mir mal Bücher zu schicken, damit ich bei diesen Debatten mitreden könne, und er schickte mir Kerouacs „The Town and the City“, Bukowskis „Das Schlimmste kommt noch oder: Fast eine Jugend“ und „Der Mann mit der Ledertasche“ und Burroughs‘ „Der Job – Ge­sprache mit Daniel Odier“ (dieses Buch schenkte ich spater an Thomas Collmer wei­ter). Hinter dieser Tür, die Biby da für mich aufgestoßen hatte, paßte plötzlich alles zu­sam­men: die Beatles, Janis Joplin, Jimi Hendrix traf ich auch auf Bibys Katalogcovern. Durch das Impressum kam ich auf den MaroVerlag Augsburg, und mein erstes Romanulett, „Der Ritt durch die Erdbeerfelder“, lag bei Benno Käsmayr und wurde gelesen. Nur mit dem „Social Beat“ konnte ich immer noch nichts anfangen – ich bestellte mir „Krachkultur“, „Cocksucker“, „Ein­blick“, las Nöske, Dahlmeyer, Richter, Knuppertz, Brinkmann und hatte am Ende der meist seichten Geschichtchen nur einen faden Geschmack im Mund. Biby ging es da wohl ähnlich; ich erinnere mich an eine Rezension eines neuen SB-Manifests, in der Biby schrieb: „Ich habe erst nach den ersten drei Kognaks einigermaßen kapiert, wovon der Kerl eigentlich spricht.“

Ich wußte von Biby selbst nicht viel. Daß er in Bottrop in einem „Knusperhäuschen“ lebte, daß er zwei Söhne hatte und sich seit 1969 für die literarische Subkultur krummleg­te, das erfuhr ich teils aus Briefen von ihm selbst oder aus dem Imp und teils erst nach seinem Tod durch Bruno Runzheimer, Theo Breuer oder Thomas Collmer. Ich wollte Biby mal besuchen, natürlich, selbstverständlich – aber alles zu seiner Zeit! Ich hatte vorerst noch damit zu tun, achtzugeben, daß ich in den Wogen von neuen Eindrücken nicht unterging – neue Dich­ter, Philosophen, Bücher, Denker, Musiker, Künstler. Außerdem war Bottrop von Ra­vens­burg ein ganzes Stück weg; für einen Wochenendtrip „mal eben“ kam das nicht in Fra­­ge. Ich be­stellte regelmäßig Bücher bei ihm, er schickte mir beispielsweise Goethes „Gespräche mit Eckermann“ zum „Gundi-Rabatt“ oder einen Schwung neuer Literaturhefte (Schreib­heft, Der Elektrische Helm, Kozmik Blues) und Franzobels neuesten Pfeffersprech im Tausch gegen ein paar Bücher von Janosch, die ich doppelt hatte und er suchte. Das Weih­nachts-Imp 1994 schickte er mir als dickes Kuvert, mit Stempeln und Sternchen und Grüßen bemalt und dem Befehl „Erst am 24.12. aufmachen!!“ Ich hielt mich daran.

Im September 1995 zog ich um nach Konstanz. Ich hatte Biby die neue Anschrift rechtzeitig mitgeteilt, und folge­richtig kamen die ersten Kuverts, die ich in meinem neuen Domizil überhaupt erhielt, aus Bottrop. Auf einem der ersten Briefe stand: „Für Gundi, neue Anschrift: Konstanz (NOCH WEITER WEG VON BOTTROP!!)“ Da hatte er recht. Aber jetzt, wo ich nicht mehr zuhause wohnte, wo ich Studentin war und vierteljahreslange Semesterferien haben wür­de – jetzt würde ich selbstverständlich auch mal nach Bottrop fahren. Zumal in Münster Frank Bröker saß, in Aachen Tuberkel Knuppertz, in Essen Bruno Runzheimer – Grund ge­nug, die Zone mal heimzusuchen. Biby schrieb mir im Sommer 95 ein Kartchen: „Komm mich doch mal besuchen – Gästezimmer vorhanden!“ Ich schrieb zurück, ich müsse mich jetzt um meinen Umzug kümmern und die Immatrikulationstermine – aber spätestens im Februar, wenn ich Semesterferien hatte, käme ich an.

Ich feierte meinen zwanzigsten Geburtstag und behängte die Wände meines Wohn­heimzimmers mit Postern: mit John Lennon, Charles Bukowski, Che Guevara. Von Janis Joplin hatte ich kein Poster, was ich umgehend zu ändern gedachte. Ich kämmte Konstanz nach Posterlä­den durch, fand aber nur Take That, Oasis und Leo DiCaprio und nicht das, was ich such­te. In einer Zeitung kam dann eine Hommage an Janis und Jimi Hen­drix, weil ihr Tod fünf­undzwanzig Jahre her war. Der Artikel war mit Fotos ge­schmückt – Janis mit wehenden Haa­­ren am Mikrophon und Janis mit Pelzmütze und Zigarette und Jimi Hendrix in Wood­stock -, und ich schnitt diese Fotos aus und klebte sie an die Wand. So. Sah doch klas­se aus. Bißchen klein, aber irgendwann würde ich schon noch ein richtiges großes Poster fin­den.

Dann kam mich Zaher zum Tee besuchen, ein arabischer Student, der im ersten Stock wohnte, und wollte wissen, wer das auf den Po­stern alles sei. Ich erklärte es ihm. Zaher schüttelte den Kopf, sah von einem Poster zum anderen, lächelte traurig und sagte: „Ist nicht gut. Alle gestorben.“

Ich verstand nicht.

Er zeigte auf die Poster. „Da. Alle gestorben.“

„Ja und?“

„Du liebst nur Tote.“

„Was? Das ist doch Unsinn! Es gibt genausoviele lebende Künstler, die ich gut fin­de! Ich kenne zum Beispiel einen ganzen Haufen Dichter, die… „

„Wo sind die?“

„Überall in Deutschland, wir schreiben uns Briefe, wir… „

„Besuchen?“

„Ja klar, besuchen werde ich sie alle mal, sobald ich kann, und… „

Zaher zeigte wieder auf die Postergalerie. „Wo sind Lebende? Ich sehe nur Tote!“

Ich fing an, mich zu ärgern. Was wollte er eigentlich?

„Ich muß gehen“, sagte Zaher und sah auf die Uhr. „Ich dir wünschen noch schö­nen Abend mit den Toten!“ Er grinste und ging.

Zaher ließ mich schaudernd zurück. Klar, es war Unsinn – ich war nicht nekrophil oder sowas, ich fand es schade, daß Charles Bukowski und Hilka Nordhausen tot waren, und John Lennon hing auch nicht da, weil er tot war, sondern weil seine Musik lebendiger war als die mancher noch lebender Untoter! Fand ich jedenfalls. Genauso verhielt sich Buks Schreibe zu dem leblosen Geschlurpse der SBler.

Um Zahers These aber auch sichtbar zu entkräften, schnappte ich mir ein DIN-A-4-Bild von Biby, das er kürzlich herumgeschickt hatte, und pinnte es an die Wand zwischen Janis Joplin und John Lennon. Biby sah nicht gut aus auf dem Bild: sein Gesicht war aufgeschwemmt, seine Augen sahen müde aus, und das wiederholte Größerkopieren des Originalfotos ließ ihn noch blasser und fertiger erscheinen. Aber egal. Es war das einzige brauchbare Bild, das ich von Biby Wintjes besaß, und ich stellte mich also auf mein Sofabett und pinnte Biby an die Wand. Dann holte ich Zaher, zeigte ihm das neue Stück in meiner Galerie und erzählte ihm viel über Bibys lebendiges Wirken und Schaffen in Bottrop.

Und dann erfuhr ich in einem Brief von Theo Breuer, genauer in einem PS am En­de des Briefes, daß Biby exakt da, als ich sein Foto an meine Wand gepinnt hat­te, gestor­ben war. Ich werde dieses PS nie vergessen. Es lautete: „PS: Weißt du üb­rigens schon, daß Biby Wintjes tot ist? Raoul hat es mir gesagt. Gestorben am 24. September.  Am un­gesunden Lebenswandel, sagte Raoul. Herzinfarkt. Ihm gings ja auch wirk­lich schlecht, dem Ärmsten.“

Ich fühlte mich wie das Ich in Janis Joplins Song „Bye, bye, Baby“: „It seems you just got lost somewhere out in the world / and you left me here to face it all alone.“

Ich kann nicht sagen, was Biby für „die Szene“ war, weil ich mich „der Szene“ nicht zugehörig fühlte. Ich kann nur sagen, was Biby für mich war: ein Men­tor, der mir an einer wichtigen Stelle in meinem Leben neue Wege gezeigt hatte. Dank Bi­by verstand ich die Wörter „Underground“ und „Subkultur“ als „kriti­sche Außenseiterintelligenz“, ein Begriff, den Biby gepragt hatte. Subkultur heißt waches, kritisches Ge­gen­stin­­ken bei gleichzeitiger Humanisierung der Kommunikation. Sich besu­chen, keine for­mellen Briefköpfe auf den Schultern tragen, ansprechen, was gesagt wer­den muß, und die Neurosenbeete der Pseudos nicht pflegen, sondern auslachen: darum geht es. Ohne Biby wäre ich wahrscheinlich nicht da, wo ich heute bin.

Bye, bye, Biby, bye, bye. Und danke!

 

 

 

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Josef „Biby Wintjes. Porträt: Bruno Runzheimer

Weiterführend →

Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.

 

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