Ordentlich

Vom rechten Weg abzukommen, das hat in unserer Gesellschaft immer einen faden bis bitteren Beigeschmack. Manchmal ist dieses System allerdings Grundlage zur mentalen Erweiterung. (Oh Gott, wird mancher jetzt wahrscheinlich denken, jetzt fängt der auch noch mit irgendwelchen esoterischen Fantasien an oder will uns die nächste Sekte unterschieben, ganz nebenbei, versteht sich. Nein, ist nicht mein Ding, aber dieses Reizwort passte an dieser Stelle so schön. Na gut, ich werde es ersetzen und neu anfangen.)

Herrn Nipp war auf den ersten Blick klar geworden, dass der Ver- bleib auf dieser Autobahn unwiderstehlich in einen in den Nach- richten angekündigten Stau geführt hätte, also nahm er die nächst- mögliche Ausfahrt und suchte sein Heil in der Flucht über die Dörfer und Landstraßen. Es hat etwas, wenn man sich die Zeit nimmt. Man sieht kleine Ortschaften, die in und für sich genom- men als geschlossene Systeme funktionieren würden, hätte man nicht die in bewährter enger und schützender Kreisform um die Kirche gebauten Häuser brutal auseinander- , einige eingerissen und eine breite dreispurige Schwerverkehrstrasse mitten hindurch geführt, anstatt einige hundert Meter daran vorbei eine Umge- hungsstraße zu verwirklichen. Man rast also mit siebzig durch eine Folge von Orten, die ihrer Seele beraubt scheinen und freut sich, wenn man entweder den stationären Starenkasten frühzeitig er- blickt, schnell abbremst oder die sich in den Schutz einer Bushaltestelle verdrückenden grünen oder blauen Männchen, die die netten elektronischen Spielzeugpistolen auf Autofahrer richten und sich hämisch freuen, wenn sie mal wieder einen erwischen, der nicht in der Lage ist, das Fahrzeug frühzeitig genug zum Halten oder langsam Fahren zu bringen.

Abseits der Autobahn lassen sich noch Rituale der Einheimischen beobachten, wenn auch nur aus der Zeitkapsel Auto heraus.

Werden beispielsweise die Straßenzüge durch eine Folge von Wimpelchen und hübscher Fähnchen verunstaltet, so kann man treffsicher darauf tippen, dass eines der berüchtigten dörflichen Schützenfeste im Schwange ist. Junge und alte Männer jeglichen Alters sind dann auszumachen, die halb besinnungslos über die Wege schwanken oder sich in den Vorgarten eines Mitdörflers übergeben. Auch hierfür sind die eben schon erwähnten Bushalte- stellenhäuschen sehr beliebt. In solchen Ortschaften ist es sonntagnachtmittags aus reinem Selbstschutz nun wirklich angebracht, vom Gas zu gehen, weil sonst beständig die Gefahr besteht, dass besagte echte Kerle auf ihrem Weg nach Hause zu groß angelegte Schlangenlinien laufen und den Bürgersteig immer wieder verfehlen und nicht nur durch vollgebrochene Vorgärten torkeln und Schäden wie eine Rotte von Schwarzwild hinterlassen, sondern den anderen Wendepunkt erst mitten auf der Straße schaffen. Es kann auch passieren, dass kleine Rudel dieser traditionsbewusst halbbewusstlosen Menschen in alter Raubrittermanier versuchen, Autos anzuhalten und dabei versehentlich, final und schuldlos komplett umgemäht werden. Also kann nur empfohlen werden, höchstens in Schritttempo zu fahren, auch auf die Gefahr hin, von hinten von den nachfahrenden Autos ausgehupt und -geblinkt zu werden.

Dies beherzigend sprang Herrn Nipp ein in grüne Uniform gekleideter Mittvierziger, der wirkte, als sei er mit Lametta behängt, auf die Motorhaube und rutschte bei ruckhaftem Anhalten des Fahrzeugs quietschend langsam zu Boden. Ohne Schramme kam dieser Schützenhauptmann davon, Betrunkene verletzen sich nicht so leicht, aber die Motorhaube zeigte durch die vielen Schützenorden, die sich langspurig in den Lack gebohrt hatten ein abscheuliches Bild.

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421