»Ehj Vater, hast du das gelesen?«, erkundigt sich Steffen, ob seinem Vater die Realität als Prüfstand abhanden gekommen ist.
»Was denn?«, wendet sich Heiner Zelmer bei der Frühstückslektüre über die Zeitung hinweg seinem Sohn zu. Er fragt sich, ob er auf der Wirtschaftsseite etwas Wichtiges überlesen hat.
»Laut Statistik kommen auf eine deutsche Frau 2,5 Männer«, rezitiert Steffen aus der bunten Seite. Giesst Kaffee ein und legt eine Ladung Toast nach.
»Traue nie einer Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast«, zieht sich der Vater auf einen Allgemeinplatz zurück. Er ist es nicht gewohnt, mit seinem Sohn Gefühlsangelegenheiten zu besprechen. Statt dessen beschäftigt er sich mit seinem Frühstücksei und übt sich in der Melancholie des Zeitverstreichens.
»Das ist gut ausrecherchiert! Hat ein Kollege von mir gemacht«, wehrt sich der Filius und legt die Zeitung zu seinem Vater rüber. Der zieht sie an sich, als sei sie ein Stück benutztes Toilettenpapier. Überfliegt den Artikel.
»Ihr seid ja unglaublich motiviert, seit der Praxisbezug in eurer Ausbildung stärker betont wird«, merkt Heiner ironisch an, um das Thema abzuschliessen.
»Das macht jetzt auch richtig Spass. Der Aufmacher von Lothar ist ein Teil einer Serie, die wir beim Chefredakteur durchgesetzt haben.«
»Was für ein Thema verhackstückt ihr?«
»Liebeslagen.«
»Ach ja. Steht ja auch im Querbalken! Es hat seit Adam und Eva sicherlich kein interessanteres Thema gegeben.«
»Lilith vielleicht?«, entlarvt er sich als Häretiker.
»Reich‘ mir doch mal die Konfitüre.«
»Mit dem Titel bin ich auch nicht einverstanden, aber du darfst nicht vergessen, dass wir für eine Boulevard–Zeitung arbeiten und da muss eben alles ein wenig plakativer sein«, doziert der Volontär und reicht das Marmeladenglas. Seine plärrenden Lieblingsschlagzeile lautet: „Kopflose Leiche in Oben–ohne–Bar“.
»Was kommt noch auf euer Plakat?«
»Aber nur, wenn du es für dich behältst!«
»Bleibt unter Drei«, neigt sich Heiner vertraulich vor und beweist seinem Sohn, dass er sich von seiner neuen Geheimsprache etwas abgeschaut hat.
»Wir schreiben über Kontaktanzeigen, Eheanbahnungsinstitute, Scheinehen mit Asylanten…«
»Wie funktioniert das denn?«, unterbricht Heiner seinen Sohn. Mit weltmännischer Gelassenheit gelingt es ihm, Eigeninteresse zu unterdrücken.
»Über professionelle Vermittler gehen minderbemittelte deutsche Frauen Eheverträge mit Asylanten ein. Bei einer Heirat zwischen einem Deutschen und einer Ausländerin gibt es automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit, eine Aufenthaltsgenehmigung und die Arbeitserlaubnis. Dafür muss der Asylant aber eine Menge Kohle abdrücken und mindestens vier Jahre verheiratet sein, dann gibt’s ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht. Die Hälfte der Obdachlosen an unserem Bahnhof sind auf diese Weise mit einer Afrikanerin verheiratet worden«, spult Steffen sein Wissen lässig ab, wobei ihm klar ist, dass die Komplexität dieser Zusammenhänge im persönlichen Einzelschicksal verpufft.
»Sehr gut, mein Sohn!«
»Zuviel der Ehre, das hat Angelina recherchiert.«
»War das nicht das Fräulein, das du mir kürzlich vorgestellt hast?«
»Sie ist eine Frau!«
»Du musst es ja wissen.«
»Lass deine Herrenwitze!«
»Woran arbeitest du denn gerade?«
»Ich schreibe die Story Der Rolls Royce unter den Menschen über den Partnerclub Fortuna.«
»Hört sich seriös an.«
»Scheint auch so. Mit dem Rolls sind übrigens die Frauen aus Asien gemeint. Neu im Angebot sind allerdings Frauen aus Osteuropa.«
»Interessant, erzähl weiter!«, wird Heiner hellhörig.
»Lies den Artikel. Hast du übrigens nie daran gedacht, nach Muttis Tod wieder zu heiraten?«
»Gedacht schon…«, schluckt der Vater. Für ihn ist es ungefährlicher, eine Bank auszurauben, als sich auf eine neue Frau einzulassen.
»Aber?«
»Diese Treffen kosten viel Geld. Kann ich glücklicherweise als Arbeitsessen absetzen, darüber hinaus allerdings kostet mich dieser Rummel aber zuviel Zeit. Und Zeit ist Geld.«
»Dann bleiben wir eben eine Männerwirtschaft. Du bist übrigens mit Abspülen dran. Tschüssken Paps«, verabschiedet sich der Filius flapsig. Greift sich die Schlüssel. Schnackt die Tür zu. Manövriert seinen Wagen aus der Garage. Fährt in die Redaktion. Heiner räumt den Tisch ab. Putzt die Platte. Verfrachtet das Geschirr in die Spülmaschine. Denkt über sein Witwerdasein nach. Fängt die leicht melancholische Schlagseite jedoch schnell wieder ab. Nimmt energisch seinen Aktenkoffer und begibt sich auf den Weg zu seiner Firma. Gerät in einen Stau. Flucht. Trommelt nervös mit den Fingern auf dem Lenkrad. Greift zum Autotelefon. Verschiebt über seine Sekretärin seinen ersten Termin. Denkt über das Gespräch mit seinem Sohn nach. Über die Zeit, wenn Steffen aus dem Haus ist… Die Erinnerung an seine Frau nagt an ihm. „Wo bleibt das Wunder des menschlichen Daseins, wenn längst alles zur Alltagsware der Bilderwelten geworden ist.“ Er entschliesst sich aus einer Laune heraus den Partnerclub Fortuna anzurufen. Nimmt aus Neugier einen Termin am späten Nachmittag an. Überlegt es sich anders. Will einen anderen Termin dazwischen schieben. Doch die Neugier siegt.
»Guten Tag Herr Zelmer, was führt Sie zu uns?«, erkundigt sich Petr Mijl, der weltgewandte Leiter der Agentur und bittet den Besucher in sein Büro.
»Mein Sohn berichtete mir von Ihnen…«
»Ah, er macht schon Werbung für uns, bevor der Artikel erscheint. Nehmen Sie doch Platz, Kaffee?«
»Vielen Dank. Gerne, mit Milch, ohne Zucker.«
Heiner Zelmer bezieht in dem bequemen Ledersessel Position. Petr Mijl schenkt ein und beginnt mit dem Beratungsgespräch.
»Wir sind ein seriöses Institut. Unser Geschäft wird sauber und ordentlich geführt. Jede Frau muss sich einem HIV–Test unterziehen.«
»Sehr löblich«, kommentiert Heiner zwischen zwei Schlucken.
»Wir haben uns spezialisiert: der Ostblock. Bei Russinnen braucht der Mann keine Winterkleidung zu kaufen, im Gegensatz zu Asiatinnen. Russinnen frieren nicht, stellen weniger Ansprüche und sind bescheidener als andere Frauen. Russinnen sind netter zu ihren Männern. Viel zu nett, gemessen an der Qualität der Männer, denn der russische Mann ist brutal, spielt, säuft und kümmert sich nicht um die Familie. Kurzum, sie möchte sich verbessern, dafür ist sie dankbar und sehr arbeitsam«, spult der Vermittler sein Programm herunter.
»Meine Erwartungen an meine zukünftige Ehefrau gehen über den sexuellen Bereich hinaus«, äussert Heiner seine Erwartungen.
»Verstehe«, brummt der Berater, dem nichts Menschliches fremd ist.
»Ich lege grossen Wert auf eine gemütliche Wohnung. Schlampigkeit kann ich absolut nicht ausstehen«, hört er sich reden, und ist sich nicht sicher, ob er ein fremdes Leben anstrebt, weil er kein eigenes hat. Obzwar er weiss, dass Zweisamkeit eine Schimäre ist, versucht er es abermals. Vermutlich. Womöglich. Vielleicht geht es gut. Man weiss es noch nicht so genau.
»Verstehe«, blättert der Berater gedanklich in seinem Katalog.
»Meine Ehefrau ist hauptsächlich für den Haushalt zuständig. Sie muss die Wohnung sauberhalten. Fenster putzen. Knöpfe annähen. Zerrissene Kleidung nähen. Essen kochen. Wäsche waschen. Blumen giessen.«
»Verstehe. Wie würden sie sich beschreiben, Herr Zelmer?«, erkundigt sich sein Geschäftspartner, um das Bild abzurunden.
»Ich bin ein sehr häuslicher Typ, rauche und trinke nicht. Gehe nicht in Discos, sondern, wenn mir meine Arbeit dazu Zeit lässt, zu einem Bier ins Brauhaus.«
Der Frauenhändler zieht eine Mappe aus dem Regal und legt sie auf seinen Schreibtisch. Blättert in seinem Katalog.
»Ich glaube, ich habe genau das Richtige für Sie. Gerade frisch reingekommen. Natascha Romanova aus Sankt Petersburg. Übersetzerin, spricht fliessend Deutsch. Masse und Konfektionsgrösse finden Sie in der Anlage.«
»Nett sieht sie aus«, untertreibt Heiner seine Begeisterung. Er hat sich auf den ersten Blick verliebt. Leider wird sein Blick vom Foto nicht erwidert. In der Vita findet er die Informationen, die den Ausschlag geben.
»Welches Procedere habe ich zu durchlaufen?«
»Sie sollten sich bescheiden geben, eher untertreiben, das kommt an. Folgende Fragen dürfen in Ihrem Brief nicht fehlen: Dürfte ich Sie in Russland besuchen? Was darf ich Ihnen mitbringen?«
»Was beträgt Ihr Honorar?«, erkundigt sich Heiner. Mijl schreibt eine Zahl auf einen Notizzettel. Hält sie unter das Feuerzeug und zündet sich mit dem entflammten Papier einen Zigarillo an. Heiner Zelmer nickt kurz. Formsache. Der Frauenhändler befördert einen Vertrag aus der Schublade hervor.
»Sie müssen hier unterschreiben, dass Sie unverheiratet sind und Ihre Partnerin keinem unseriösen Gewerbe aussetzen werden.«
Mit dem geübten Blick eines Prokuristen überfliegt Heiner den Vertrag. Das Kleingedruckte beinhaltet bei Nichtzustandekommen einer Ehe ein Rückgaberecht. Er setzt seine Unterschrift neben das X. Zückt die goldene Credit–Card. Zahlt. Schüttelt die Hand des Vermittlers, verlässt die Villa und fährt nach Hause.
»Das findest du also gut«, schallt es metallisch durch den Flur, als er die Haustür aufschliesst. Sharon greift sich ihr Cape. Wahrt Heiner gegenüber ihre angeschminkte Mimik. Nickt ihm kurz zu. Nimmt die Klinke in die Hand und knallt die Tür zu. Steffen steht seinem Vater entgeistert gegenüber, der ohne in servile Hast zu verfallen seinen Mantel ablegt.
»Schwierigkeiten?«, erkundigt sich Heiner bei seinem konsternierten Sohn. Mütze und Kapuze hat er tief in die Stirn gezogen, und die Augenlider sind weit gesenkt, um Schläfrigkeit vorzutäuschen, ein Desinteresse an der Welt. Erst nach einer Weile rückt er damit heraus:
»Das mit den „Liebeslagen“ ist wohl doch nicht der Renner.«
»Willst du es mir erzählen?«, erkundigt sich der besorgte Vater. Hakt sich bei seinem Sohn unter. Geleitet ihn zur Hausbar. Mixt einen Drink. Wartet ab.
»Sie wirft mir Sexismus vor«, eröffnet sein deprimierter Sohn. Erzählt von Sharons Vorwürfen. Dass er der Sache gegenüber zu unkritisch sei, falsch nachgetackert habe, auf die Argumentationsschiene reingefallen sei undsofort. Sein Vater greift in die Seitentasche, präsentiert das Foto von Natascha auf der Ablage an der Bar.
»Ich habe einen Auftrag für dich. Einen Euro pro Zeile«, fordert ihn sein Vater auf. Steffen wird blass, als er den Stempel des Partnerclubs sieht. Er nimmt die Flasche. Giesst sich einen Doppelten ein. Haut die Pfütze weg.
»Ich soll der Dame einen Brief schreiben?!«, erkundigt sich Steffen ungläubig.
»Bitte auf Firmenpapier, wenn es dir nichts ausmacht«, bittet der Vater seinen Sohn um eine Gefälligkeit und giesst erneut nach.
»Nur, wenn du mir alle Freiheiten lässt«, stellt Steffen eine Bedingung.
»Tu was du willst, sei das ganze Gesetz.«
Darauf stösst er mit seinem Vater an. Lässt die Luft aus dem Glas. Nimmt sich die Flasche und geht auf sein Zimmer. Schaltet den Rechner an. Auf dem Bildschirm erscheinen die eingescannten Mustertexte, die er im Lauf seiner Recherche gesammelt hat. Steffen giesst sich den nächsten Schluck nach. Verflucht in einem endlichen Monolog Sharon. Vom Teufel geritten, bastelt er aus den Mustern einen persönlichen Brief zusammen:
Liebe Natascha,
Ihre Anschrift erhielt ich vom Partnerclub Fortuna. Ich suche eine Partnerin für eine Dauerbeziehung, respektiv, Heirat. Möchte aber versuchen, mir einen lang ersehnten Wunsch zu erfüllen und somit eine Frau zu finden, die ebenso wie ich das grosse Verlangen hat, in einer hocherotischen Zweisamkeit zu leben. Bei allen Voraussetzungen für eine Partnerschaft, wie Sympathie, Niveau und Treue, möchte ich dennoch eine Frau finden, die ebenso von sexueller Triebhaftigkeit erfüllt ist, wie ich und somit in einer Zweisamkeit auch absolut tabulos ist. Ebenso ehrlich möchte ich Ihnen mitteilen, dass ich ein ausgesprochener Busenfetischist bin. Es gäbe für mich nichts Erregenderes, als wenn meine zukünftige Frau eine riesige Oberweite hätte. Aus einer ganzen Anzahl von Vermittlungsvorschlägen habe ich daher Sie ausgewählt. Ihr Charme hat mich so begeistert. Am liebsten würde ich Sie sofort vernaschen. Sie sind eine sehr rassige Frau.
Dürfte ich Sie in Russland besuchen? Was halten Sie davon? Was darf ich Ihnen mitbringen?
Mit freundlichen Grüssen, Heiner Zelmer
Am frühen Morgen erwacht Steffen. Auf seiner Stirn ist die Tastatur seines Keyboards abgemalt. Er blickt auf den Bildschirm, darauf ist sein Traum der letzten Nacht zu lesen, als er ihn speichern will, verschwindet er vom Schirm. Im Schacht des Druckers liegen Brief und Kuvert. Er liest den Entwurf. Sein Humor ist gewollt obszön. Der blow–up hat hier eine sexuelle Note. Steffen zerreisst ihn. Will die Datei löschen. Macht den Befehl rückgängig. Wenn er seinen Vater von einer Dummheit abhalten will, dann gerade durch eine solche Dreistigkeit. Lässt den Brief erneut von seinem Drucker auf Firmenpapier ausdrucken. Klebt den Umschlag zu. Zufrieden legt er sich ins Bett. Ohne seinen Vater davon weiter in Kenntnis zu setzen, wirft Steffen den Brief am nächsten Tag in den Kasten. Die Antwort darauf folgt zwei Wochen später per FAX in die Firma. Heiners Sekretärin Sharon legt die Mitteilung auf seinen Schreibtisch.
Lieber Heiner,
besuchen Sie mich, falls es Ihnen terminlich passen sollte, doch am kommenden Wochenende. Meine Mitbewohnerin fährt zu ihren Eltern auf die Datscha, so könnte ich Sie problemlos beherbergen.
Hochachtungsvoll, Natascha Romanova
P.S. Es wäre nett, wenn Sie mir ein paar Kiwis mitbringen würden.
Heiner, der schon gar nicht mehr mit einer Reaktion auf die Heiratsvermittlung gerechnet hat, ist elektrisiert. Läuft in seinem Büro auf und ab. Spielt mit dem romantischen Gedanken, sofort mit seinem Porsche durch die neuen Länder, Polen und die baltischen Staaten nach Sankt Petersburg zu fahren…
Die Entfernung zwischen den Menschen ist unendlich. Er lässt seine Sekretärin die Frühmaschine buchen und fliegt am nächsten Vormittag. Frühstückt einen Wodka. Sieht im Spiegel der Wolken sein Leben vorbeiziehen. Der Jet brummt vor sich hin. Die Düsen saugen ihn aus seinem bisherigen Leben heraus. Heiner schläft ein und wird erst vom Holpern auf der Landebahn wieder wach. Im Halbschlaf läuft er durch den Flughafen. Ordert ein Taxi. Murmelt die Adresse. Fassaden verwitterter Paläste fliegen vorbei. Entlang der Strasse der Unbeugsamen. Nie gesehene Strassenzüge. Das Taxi setzt ihn vor einer grauen Mietskaserne ab. Heiner zahlt in Euro, was den Fahrer freut. Er weist mit dem Zeigefinger auf die Mietskaserne. Kurz vor der Tür kommen Heiner Zweifel, doch er packt sein Gepäck und all seinen Mut zusammen. Irrt durch Hausflure. Findet schliesslich die Kommunalka. Klingelt. Steht mit seinem Handgepäck, einem Früchtekorb und einem riesigen Strauss Blumen vor der Tür.
Natascha öffnet. Die toten Augen auf dem Foto erhalten eine lebendige Seele. Heiner versinkt in diese Landschaft. Der Moment dehnt sich endlos. Sie wirft ihre langen Haare in den Nacken. Verändert ihre Position. Sie sieht jünger aus, doch diese Augen, die Nase, der Mund. Ein verlegenes Lächeln geht in Freude über. Sie bittet ihn herein.
»Für Sie.«
»Welch‘ Überraschung!«, ruft Natascha, als sie den Früchtekorb entdeckt.
»Bitte sehr.«
»Frisches Obst«, flüstert sie und tastet die Äpfel, Apfelsinen, Bananen und Kiwis ab, um sich zu versichern, dass es sich nicht um eine Fata Morgana handelt.
»Gern geschehen«, murmelt er und überreicht das nächste Geschenk, das er hinter dem Rücken verborgen gehalten hat.
»Oh, Blumen«, fällt sie fast von einer Ohnmacht in die nächste. Beschäftigt sich angelegentlich mit der Weiterverarbeitung. Sucht eine Vase. Füllt Wasser hinein. Schneidet bei den Pflanzen den Stil an. Drapiert die Blumen auf der Fensterbank. Wendet sich um.
Heiner steht fasziniert im Flur. Den Koffer immer noch in der Hand. Ein Weisser, der die Eingeborenen mit Glasperlen betrügen will. Er schämt sich. Möchte auf der Stelle kehrt machen und am liebsten wieder nach Hause fahren.
»Oh, wie selbstsüchtig von mir«, ruft Natascha. Geht Heiner entgegen. Nimmt ihm den Koffer ab. Geleitet ihn in das Gästezimmer. Der Geschäftsmann legt ab, weiterhin unfähig, ein Wort heraus zu bekommen.
»Machen Sie sich erst einmal frisch«, ermuntert sie ihn und schliesst hinter ihm die Tür. Heiner tritt ans Fenster und sieht auf vier schluchtgleiche Innenhöfe, die von gewaltigen Mauern umschlossen sind. Auf dem Hinterhof spielen Kinder. Er wendet sich ab. Sieht sich um. Setzt sich auf einen Stuhl. Vergräbt den Kopf in den Händen. Massiert die Schläfen. Grübelt. Nach einer Weile klopft es leise an der Tür. Natascha kommt herein.
»Sie haben unter dem Obst Wäsche versteckt, Sie Schelm!«
»Ich hoffe, es macht Ihnen Freude«, gibt Heiner verlegen von sich. Sie nickt, deutet ein Lächeln an und lässt keine Zeit zum Verweilen. Natascha hat ein umfangreiches Besucherprogramm vorbereitet.
»Petersburg verfügt über Plätze, Parkanlagen, Baukomplexe und Prospekte, wie man sie in ganz Europa nicht findet. Sie müssen unbedingt die Peter und Paul–Festung sehen, die Dreifaltigkeitskirche, die Admiralität, die Nikolaikirche, die Eremitage…«, sie gerät beim Aufzählen ausser Atem. Er lacht befreit, weil er merkt, dass auch ihr die Situation etwas unangenehm ist. Sie machen sich ausgehfertig. Fahren mit einem von ihr geliehenen Lada durch das Palmyra des Nordens und machen eine Reise durch ein geschlossenes Ensemble aus Barock, Neoromantik, Biedermeier, Klassizismus und Jugendstil. Die Fassaden bröckeln, den Fenstern fehlt der Anstrich, die Hinterhöfe sind heruntergekommen.
Die Fremdenführerin schwankt zwischen Nervosität und Aufgekratztheit. Sie kramt in der Anekdotenkiste. Gibt beiläufig Geschichtsunterricht. Gegenüber dem Winterpalais liegt noch immer der Panzerkreuzer Aurora vor Anker. Das stählerne Schiff liegt fest vertäut im Herzen der Stadt. Am Finnischen Bahnhof steht unter Glas die Lokomotive 293, mit der Lenin 1917 als Heizer Ivanov hier ankam. Ein Heizer als historische Figur. Natascha hakt sich bei ihm ein. Das Paar flaniert über den Newskij Prospekt. Das Wort Prospekt leitet sich etymologisch von Perspektive ab, als Weitblick. Petersburg sollte eine ideale Stadt in einem idealen Staat werden.
Wie in der Schwesterstadt Venedig stinkt es auch hier zum Himmel. Ungeklärt fliessen häusliche und industrielle Abwässer in die Newa und ihre Nebenflüsse. Links und rechts der Prachtstrassen führen dunkle Torbögen zu verfallenen Häusern, mit vorrevolutionären Kanalisationsrohren und Heizkörpern aus den Jahren des Ersten Weltkriegs. Am Verkehrsknotenpunkt Repin–Platz stösst man überall im Boden auf einen Moder, der an Kartoffelbrei erinnert.
»Hier wird ’ne Leiche geschminkt«, spottet sie beim Blick auf das Kaufhaus Gostinyj Dwor. Bei der Renovierung reichte das Geld nicht für die Rückseite des Gebäudes. Reklametafeln verdecken die blinden Fenster leerstehender Ruinen.
Die Vitalität einer nationalen Kultur erweist sich darin, dass sie man im „Fenster nach Europa“ in der Lage ist, fremde Einflüsse aufzunehmen, sie sich anzueignen und fortzuentwickeln und zu einem Schaufenster für Europa zu werden, in dem Russland sich dem Westen als eigenständige Kulturnation präsentiert.
»Seit der Tessiner Domenico Trezzini die ersten Wahrzeichen von St. Petersburg schuf, arbeiteten Architekten aus der italienischsprachigen Welt hier«, erläutert sie den bedeutenden Kulturaustausch zur Zeit des Klassizismus in der Peter–und–Paul–Kathedrale, dem Meisterwerk des Tessiner Architekten Domenico Trezzini, »Unter Elisabeth I. realisierte dann Bartolomeo Rastrelli Barockjuwelen wie das Smolnj–Kloster, den Winterpalast oder die Anlage von Zarskoje Selo.«
»Auch sie hatten einen Traum von Italien…«, murmelt Heiner angesichts antikisierender Prachtbauten, deren Fassaden und Interieurs die archäologischen Neuentdeckungen sowie die architektonischen und antiquarischen Erkenntnisse von Palladio bis Winckelmann spiegeln. Ihr wachsendes Interesse an Antike und Italien befriedigten aus dem Ausland herbeigerufene oder an der Petersburger Akademie und anschliessend in Rom ausgebildete Architekten. Mit Neubauten wie der Akademie der Wissenschaften oder der Assignatenbank war Giacomo Quarenghi Mitbegründer des strikten Klassizismus.
»Es kristallisierte sich ein von altrömischer Monumentalarchitektur geprägter Stil heraus. Die mit bogenartigen Portalen akzentuierte Admiralität zeugt von einem starken Einfluss der französischen Revolutionsarchitektur, während Andreij Woronichin mit der Kasaner Kathedrale und ihren urbanistisch raffiniert auf den Newskij Prospekt ausgerichteten Kolonnaden eine antikische Antwort auf den Petersdom fand«, erinnert sie sich an ihre Jugendliebe Igor. Sie hatte Gelegenheit im Rahmen seiner Examensarbeit, kostbare Zeichnungen und Pläne einzusehen und die zeittypische Antikenbegeisterung auf Gemälden von Hubert Robert, Pannini und Hackert zu betrachten. Igor forschte über den Ingenieur Antonio Adamini, der Auguste de Montferrand bei der Realisierung der Kathedrale, aber auch bei der Errichtung der Alexandersäule auf dem Schlossplatz als technischer Berater zur Seite stand. Der Student erkannte, wie schwer es fortschrittliche Projekte in dem vom alexandrinischen Empire dominierten Petersburg hatten, dies zeigte der Wettbewerb für die Isaaks–Kathedrale, bei dem der Vorschlag von Auguste de Montferrand, welcher Soufflots Panthéon variiert, dem rationalistisch entschlackten Entwurf von Domenico Adamini vorgezogen wurde. Igor widmete sich historischen Themen und optierte fast ausschliesslich für die schwere Sprache des Symbolischen. Zu einer kühlen, selbstreflexiven Veranschaulichung und Konkretisierung des Sujets gelangte er nicht.
Der Bettler versucht ihre Nachdenklichkeit auszunutzen. Stumm klappt er den Arm aus und hält ihr seine Hand entgegen. Er löst im Wortsinne Erschütterung aus. Fragende, riesige Augen, doch der Rest der Züge eingefallen, von Auflösung bedroht. Ein blonder, weicher, fäulniskranker Mann, der die grotesk zugespitzte, wild verrenkte Welt kalt anstarrt. Sie anglotzt und innerlich niederringt. Ein Insektenforscher, der sich zum Kammerjäger berufen fühlt: ein Mandatar des Schreckens. Erkennbar wird in seinen Gesichtszügen das Zerfasern aller Antriebe und Sehnsüchte in der Nutzlosigkeit eines öden Alltags. Eine Schattenzone des Rabiaten unterhalb der Humanisierung von Arbeitswelt und Geschlechterverhältnis sucht in ihm nach Ausdruck.
Heiner verbirgt seine Unsicherheit hinter herausfordernder Lässigkeit. Jede seiner Gesten wird durchsichtig, jede Bewegung definiert eine Haltung, die auf Verbergen zielt. Er zieht sie aus dem Bannkreis auf den Boulevard.
Der Newskij Prospekt ist die ideale Kulisse für fliegenden Souvenirhändler mit Matruschka–Puppen. Die Flaniermeile zwischen Moskauer Bahnhof und Admiralität hat nach aussen hin seine Eleganz bewahrt. Die Vitrinen im Delikatessenladen der Gebrüder Jelissejew sind gefüllt, mondäne Restaurants ausgebucht. Es interessiert Heiner, was hinter den Jugendstil–Fassaden der Bankhäuser, Handelskontore und Boutiquen passiert. Der Stilpluralismus des Stadtbilds fand seine eindrückliche Entsprechung in der schnell anwachsenden, sozial und ethnisch äusserst disparaten Bevölkerung, die Hoch– und Dienstadel, Beamtentum und Arbeiterschaft, Unternehmer und Intellektuelle ebenso spannungsvoll amalgamierte, wie sie verschiedenste Völkerschaften und Religionen zu einem einzigartigen Gemenge zusammenführte.
Um Punkt zwölf erklingt der tägliche Kanonenschuss aus der alten Petersburger Festung. Sie flanieren vorbei an heruntergekommenen, doch noch immer glanzvollen Bürgerhäusern. Auf den Parkbänken an der Uferpromenade liegen Seitenscheitel–Kadetten und Pferdeschwanz–Mädchen einander in den Armen. Heiner erkennt, dass der Jugendstil hier zu einer spezifischen Form fand: diszipliniert, dezent, zurückhaltend. Das alte Zentrum ist ein in Stein geschlagener Traum von Grösse und Ruhm, der überlebt hat als potemkinsche Kulisse einer alten Ordnung inmitten des neuen Chaos. Bausubstanz und Infrastruktur bröckeln, mit ihnen Moral und Mittelstand. In wenigen Händen bündelt sich der Reichtum, und wo es geht, wird er ausser Landes geschafft. Der grösste Fehler des Westens und der Reformelite Russlands ist der Glaube an die Selbstorganisationskräfte des Kapitalismus gewesen. Sie versprachen eine kreative Gründer– und Blütezeit, sobald nur die Planwirtschaft abgeschafft sei. Die chronische Leere rührt daher, dass die Menschen das Vertrauen in ihr Tauschmittel verloren haben und dass sie lieber gleich Waren gegen Waren handeln. Den Konsumismus als herrschende Ideologie erledigt keine Gegenideologie. Dass er den Geist der Gründerzeit geatmet hat, schreckt ihn nicht. In Russland ist Intellektualität etwas Mentales, Seelisches. Newgorod erscheint ihm als die allerabstrakteste Stadt, die er bis dahin kennengelernt hat. Ein Geheimtipp, der darauf wartet, keiner mehr zu sein.
Sie besuchen die Ermitage und Natascha erweist sich als Kennerin der schönen Künste. In dieser Stadt entsteht aus lauter fremden Versatzstücken eine eigene Welt, mit all der leidvollen Kriegs– und Blockadeerfahrung hat das alte Pertropolis die Chance, die geistige Hauptstadt des neuen Russland zu werden. Als es dunkelt, gehen sie in ein altes Kino, in dem Oktjabr läuft, mit Pianobegleitung. Dieser Film gibt ihm zu denken, weil er ihn zum Weinen bringt.
»Bedanke mich für die Sightseeing–Tour. Jetzt wird es Zeit, mich zu revanchieren. Ich möchte Sie gerne zum Essen einladen!«, schlägt er vor. Er ist in Halbdistanz zu allen anderen, obzwar er sich mit vollendeten Umgangsformen durch die Gesellschaft bewegt, sind es eigentlich Vermeidungsformen.
»Ich kann auch selber kochen.«
»Nein, ich bestehe darauf! Nennen Sie bitte das beste Haus am Platz.«
»Ich würde gerne einmal in das Tschaika, die Möwe«, setzt Natascha ein Lächeln auf, das ironisch wirkt, ohne zu verletzen.
»Gehen wir«, zieht er sie sanft an der Hand. Das Licht der Weissen Nächte von St. Petersburg, wenn Abendrot und Morgenschimmer ineinander fliessen, fällt aus sternenlosem Himmel in die Stadt, ein milchig dünnes Licht, das Schatten schluckt und Farben übertüncht. Während der Beliye Nochi braucht man keine Strassenbeleuchtung, die Fassaden und Portikos, Stuckköpfe und Säulen verlieren im dünnen Licht ihre Räumlichkeit in ihrer Zweidimensionalität und wirken wie gigantische Bühnenbilder aus dem klassischen Altertum. Katjuscha macht vor dem Sex–Club Golden Dolls am Newskij Prospekt Werbung für die Stripperinnen drinnen, bewacht und beschützt von einem Glatzkopf im Designer–Sakko, den Natascha „Katschki“ nennt: Muskelpumpe. Im Grandhotel Europe, der ersten Adresse der Stadt, reisen die Gäste auch heute wieder zu winterlichen Ausflügen ins Landhaus der Kaiserin Alexandra, um dort Konzerte zu hören oder Champagner–Empfängen beizuwohnen. An den Wochenenden der Ballsaison werden im Kryscha–Ballsaal auf den Tischen hunderte von Gläsern pyramidenförmig aufeinander gestellt. Ist das fragile Bauwerk fertig, wird in das erste Glas auf der Pyramidenspitze so lange Champagner gegossen, bis das überlaufende Glas alle anderen mit aufgefüllt hat. Die grossen Bälle der Romanows in St. Petersburg, an die wieder angeknüpft wird, waren die letzten Zuckungen einer zu Ende gehenden Epoche. Am Eingang zur Metro reckt ein Bettler wortlos die Hände. Zwei Polizisten am Eingang des Tschaika. Ein Schild im Schaufenster, auf dem steht: Only Valuta. Eine Überraschung: das Tschaika ist ein Restaurant im hanseatischen Stil. Die Speisekarte ist üppig. Wildlachsfilet in Champagnersosse. Fisch aus sibirischen Waldseen. Riga–Sprotten.
»Hier gibt es sogar Matjesfilet nach Hausfrauenart und den Original–Labskaus Windjammer!«, ist Heiner erstaunt und wählt Fisch aus sibirischen Waldseen.
»Die Besitzer nennen es Joint Venture. Das Tschaika hat eine deutsche Firma mit russischen Partnern aufgemacht«, entscheidet sich Natascha für den Labskaus. Skurrile Gestalten bevölkern die Gaststätte. St. Petersburg erscheint als europäische Stadt des Geistes, wo das Nachdenken im Kaffeehaus manchmal in Trägheit und Snobismus übergeht. Hier zählen keine Kreditkarten, die Bezahlung erfolgt in Dollar oder Euro.
»Sind Sie enttäuscht?«, erkundigt sich Natascha besorgt.
»Verwirrt«, nuschelt er, als würde er im Schlaf sprechen. In Petersburg herrscht derselbe strenge römische Geist, der Geist der Ordnung, jener Geist des formvollendeten Lebens, der für die allgemeine russische Schlampigkeit so unerträglich ist, aber doch ganz ohne Zweifel auch seine Reize besitzt. Stunde der violettblauroten Himmelsfarben. Wind treibt in dichten Wolken Pappelsamen vor sich her. Kinder singen das Lied vom Sommerschnee. Feiner Regen fällt, ein kurzer Schauer, so warm wie das Bier in den Bechern aus Pappe, mit dem sich die Schüler betrinken. Als die Sonne kurz vor Mitternacht glutrot versinkt, schauen alle sehnsuchtsvoll nach dem vermeintlich goldenen Westen.
»Sie sehen müde aus. Morgen können Sie ausschlafen, dann fahren wir auf’s Land und sehen uns die Umgebung an, wenn Sie wollen.«
Heiner ist hundemüde. Bereits im Auto nickt er ein und bekommt das traditionelle Brückenfest nicht mit, das im Zenit der Beliye Nochi gefeiert wird. Die Stadt feiert das Öffnen der hellerleuchteten Klappbrücken. Natascha schafft das Rennen. Um 2·00 Uhr heben sich die Klappbrücken.
Als beim Hochklappen der Dworzowj Most doch noch ein paar Raketen aufsteigen, wird jeder Knall und jeder Blitz mit Jubel und Applaus bedacht. Schiffskonvois gleiten die Newa hinunter ins baltische Meer. Natascha kurvt vorsichtig um die Blocks. Weicht den Schlaglöchern aus. Was als himmlisches Jerusalem auf Erden gedacht war, gewinnt mehr und mehr die düsteren Umrisse eines Horrorlabyrinths, und wird mit der Hure Babylon identifiziert. Sie bringt den Wagen leise zum Stehen. Schaltet den Motor ab. Fühlt Heiner sanft über die Augen. Er schlägt die Lider hoch. Murmelt eine Entschuldigung. Sie lächelt.
Der Atem der Nacht ist kalt. Sie schleichen durch das hallende Treppenhaus in die Wohnung. Gehen schweigsam auf die Zimmer. Heiner fällt sofort in einen tiefen Schlaf. Natascha betrachtet den vollen Mond. Denkt über den Fremden nach. Er erinnert sie an ihren Vater, einen Offizier der roten Armee, der in Afghanistan fiel. Sie wälzt sich hin und her. Sucht die richtige Schlafposition. Als der Morgen durch die Wolken lugt, taumelt sie durch einen oberflächlichen Schlaf… träumt von der Ballsaison und dem Parkett der Prunksäle. Während der Ballnächte leuchtet St. Petersburg in einem Kleid aus Eis und Schatten. In der Winterzeit bricht der Abend schon am Nachmittag an, die Nächte sind lang. Es türmt sich der Schnee, Enten laufen am Ufer des Gribojedova–Kanals entlang, die Newa ist von spitz aufgeworfenen Eisschollen bedeckt. An der Gorochovaja Nr. 57 tanzte sie als Ballerina hinter hohen Fenstern mit Eisblumen in einem beleuchteten Ballettsaal. Gedankenversunken warf sie ihre Arme nach oben, reckte den Hals, streckte den Körper. Ihre Bewegungen blitzten im Eis auf, wurden dort gebrochen zu kleinen eckigen Mustern…
Heiner wird vom Wassergeplätscher wach. Reibt sich die Augen. Sieht auf. Läuft tapsig über den Fussboden. Öffnet vorsichtig die Tür. Natascha wäscht sich über einer Schüssel. Sie hat ihm den Rücken zugewandt. Im Gegenlicht wirkt sie wie die Figur aus einem Stummfilm. Eine schöne Frau ist eine Realität, die im Spiegel mit sich selbst kopuliert. In ihr verbirgt sich das Geheimnis einer Konservendose. Man macht sie auf und hat sie zum Fressen gern. Natascha trägt den String–Tanga, den er ihr mitgebracht hat. Leidenschaftliche Frauen haben einen kalten Hintern. Der String teilt ihren Po in eine westliche und eine östliche Halbkugel, die ihn magisch anziehen. Atlas nimmt das Gewicht der Welt in seine Hände. Beide verharren im Gleichgewicht. Die Sehnsucht des Liebenden, mit der Geliebten völlig eins zu sein. Sekunden fliessen dahin und verrinnen im Uferlosen… Natascha liegt auf dem Laken dahin gegossen. Eine nackte Maya. Von diesem Augenblick an ist er ihr restlos verfallen.
»Heirate mich!«, erscheint sie ihm in ihrer körperlichen Direktheit als greifbares Sehnsuchtsbild.
»Die Ehe ist ein bürgerliches Unterdrückungsinstrument«, höhnt sie.
»Sag nichts gegen die Ehe…«, turtelt Heiner, »ein letztes Fossil der bürgerlichen Gesellschaft, eine Reliquie, die gewisse Vorteile verschafft. Bei einer Heirat zwischen einem Deutschen und einer Ausländerin gibt es automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit, eine Aufenthaltsgenehmigung und die Arbeitserlaubnis«, zitiert er aus dem Artikel seines Sohns, verschweigt jedoch, dass die Gesellschaft damit in familiäre Monaden zerhäckselt wird.
»Ein Freifahrtschein?«, zögert sie… Erst als das Paar die Ringe untersucht habt, erkennen sie, wer sie sind. Es gefällt ihnen. Ein seltener Fall von erwiderter Liebe.
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Vor zehn Jahren erschien: Monster, Short-Stories von A.J. Weigoni. Krash-Verlag 1990
In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Dieser angeschmutzte Realismus entzieht sich der Rezeption in einer öffentlichen Institution. Daher sei sei Enno Stahls fulminantes Zeitdokument Deutscher Trash ebenso eindrücklich empfohlen wie Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten.
→ Die Monster Short-Stories waren die Vorstufe zu Zombies, Erzählungen von A.J. Weigoni, Edition Das Labor 2010
→ KUNO übernimmt zu Zombies einen Artikel von Kultura-extra aus Neue Rheinische Zeitung und fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur. Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.