Ihr Gedicht „blau“ beziehe ich sofort auf meine eigene Empfindung dieser Farbe, die ich liebe und der ich zugleich so misstraue, die mich vor lauter Sehnsucht nach Wärme schmerzt, die mir Schönheit und Frost, Tod und absolute Form in einem bedeutet.
blau
zieht der tag die sonne
seine waffe aus der scheide
liegt auf der haut das licht
befleckt sein glanz das fleisch
schimmern mir die adern
tanzt der leib im taumel
verzerrt mir lachen das gesicht
steig ich dem raum entgegen
hüllt mich dunkel streu ich
okererde über meine lippen
Im letzten Vers streichen Sie die Komplementärfarbe auf die Lippen des lyrischen Ichs, Erde, Leben, Leben durch Schreiben, Dichten, da zitieren Sie Hölderlin, und alles, was ich über Hölderlin dachte, ist jetzt wieder evoziert! Dieses grünende Gelb der Okererde auf den Lippen am Ende, da wo Tod und Geburt ihren Ort haben, hat zu Beginn seine Entsprechung mit der Sonne, mit dem Tag. Da sind Sie mit diesem kleinen Gedicht wunderbar dran an Hölderlins „Hälfte des Lebens“! Was für ein schönes Gedicht! Das Licht als Waffe des Lebens, die verwundet und verteidigt. Blau aber ist der Titel für dieses gelbe Leben in den blau scheinenden Adern, diese Farbe, dieser Titel ist das Vorzeichen, Sie verstehen es dipolar wie ich. Dunkel gegen Ende: steig ich dem raum entgegen (dem Sarg?) – hüllt mich dunkel: Konditional? Nein, in Ihren invertierten Versen ist das Konditionale schon verblichen, es wird kausal und zugleich final. Und dann kann ich lesen: Weil ich (trotz Sonne) in Dunkel eingehüllt bin, muss ich mir selbst Sonne werden durch Selbsterschaffung, durch Sprache, damit das Blau entsteht. So oder so ähnlich! Das ist nach meinem Verständnis eine Version der Idee, die Hölderlin in seinem Gedicht „An die Parzen“ formuliert, wenn auch anders. Ändern Sie hier kein Wort mehr, ich bitte Sie.
[An Holger Benkel 13.1.2001]
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