Der Titel zu den 61 minimalistischen Gedichten entstammt, wie der Autor in einem kurzem Nachwort uns mitteilt, einer Begegnung mit einem Stein, der sich im Hof eines Weihers befand. Auf der Suche nach einer Heimstätte für ihn, die möglicherweise auf einem nicht mehr existierenden jüdischen Friedhof lag, beginnt das lyrische Ich eine Reise, auf der die elementaren Dinge dieser Erde stets die wesentliche Rolle spielen. In den Eingangsversen „Nach Empedokles“ sind es zunächst Meer und Erde, Tod und Liebe, dann erweisen sich die Jahreszeiten Winter und Sommer als Begleiter einer Reise, die „so lang wie der Fall von einer hohen Brücke“ ist. Die äußeren Gebilde sind in der lyrischen Wahrnehmung so „unendlich und doch begrenzt von Traum und (vom) Zerfall der Sätze“. Auch der Abstieg in die Kindheit bringt keine Geborgenheit: „Am gegenwärtigsten sind wir in der Trennung“, heißt es da. Erst die anschließenden lyrischen Bilder offenbaren ein Ich, das sich zu erkennen gibt:
und verbergen darf ich mich nicht unter den Lidern
wenn du den Blick von mir abwendest.
Krynickis lyrisches Ich sucht hinter den unaussprechbaren Worten eine Ahndung von Erkenntnis, die es im Augenblick des Erkennens nur noch als Spiegelung wahrnimmt. In „Das Banner des Surrealismus“ will sich ein dichterisches Ich in der Literaturgeschichte wiederfinden. Ein Versuch, der scheitert.
Im Zwiegespräch mit seinem (wiedergefundenen) Gedicht erweist sich dieses als skeptischer Kommentator seines Strebens, eine gemeinsame Sprache zu finden. Kurz entschlossen schneidet es ihm die Zunge ab und erkundigt sich danach, was sein Autor noch zu sagen habe. Irritierend in solchen poetischen Konstrukten ist die lakonische Stimmlage, die auch in dem Gedicht über den polnischen Dichter Tadeusz Peiper als Traktat über die falschen Prophezeiungen zum Ausdruck kommt.
Peiper „glaubte an die Sendung der neuen Kunst. Er hatte den Verdacht. / daß die Rivalen seinen Einfällen auflauerten. Daß sie falsche Boten / schickten, Frauen, verführerische Agentinnen fremder / Literaturen. Dämonen der Schnelle. Vampire mit unsichtbaren Fängen / bewaffnet.“ – so beginnt Krynickis Poem, in dem der geniale Dramatiker, Theatermacher und Romancier, Ignacy Witkiewicz, sich als der große Gegenspieler von Peiper erweist.
Der zweite Teil des Gedichtbandes besteht aus aphorismenartig gestalteten lyrischen Entwürfen, die sich ganz unterschiedlichen Themen – in aller Kürze – widmen. Buddha und Christus werden verglichen, jedoch ein Unterfangen, das vergeblich ist:
umsonst verbirgst du dich
in so vielen Verkörperungen.
Hiobs Schuld steht neben biographischen Reminiszenzen, und bei der Lektüre der Schriften von Fromm fällt dem lyrischen Ich nicht mehr ein, als:
Der Nekrophile hat verloren
und der Sadist hat die Herrschaft über uns erlangt.
Na und, fragt sich der Rezensent, der immer schneller durch das Bändchen mit dem konzeptuell anregenden Einband blättert. Dann und wann aber taucht das lyrische Ich wieder auf, nimmt Positionen an, wenn es sich zum Beispiel um die Poetik von Zbigniew Herbert handelt. Ihm verdankt der Lyriker Krynicki vor allem in den siebziger Jahren wertvolle Anregungen. In einem kurzen Text aus dem Jahre 1987 blitzen diese Gedankenassoziationen wieder auf. In einem Zitat aus dem Werk des 1998 verstorbenen, sicherlich bedeutendsten polnischen Lyrikers, setzt sich Krynicki mit der „sündigen Zunge“ auseinander, „mit der ich nicht mehr sprechen will“, weil er sich der heiligen Sprache nicht würdig fühle.
Leider verliert der Leser – nicht zuletzt – auf Grund der Verknappungen in der lyrischen Diktion immer wieder den gedanklichen Faden, der in der Übertragung von Esther Kinsky nicht immer überzeugend gezogen ist. Dennoch: ein kleiner Band voller unerwarteter Reflexionen, die sparsam aneinander gefügt, den Leser in eine neue steinerne Welt führen, deren Geheimnisse nicht gelüftet werden.
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Stein aus der Neuen Welt. Gedichte von Ryszard Krynicki. Ins Deutsche übertragen von Esther Kinsky. Rospo, Hamburg 2000
Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.