Vorlesen

 

Er hatte begonnen einen Text vorzulesen, voller Vorfreude auf seine Reaktion. Hatte die Stimme moduliert, sich verausgabt, soweit das auf einer Seite überhaupt möglich ist, denn länger waren seine Texte selten, meist sogar kürzer, Miniaturen gleich. Herr Nipp hatte radikal alles Überflüssige eliminiert, jedes Geschwurbel mit Exekution oder Exil belegt. Der Text war auf das Nötigste zusammengedampft worden und enthielt so die Quintessens des Denkens eines ganzen Tages. Alles Gefühlhafte, alles auch nur ansatzweise Kitschige war verschwunden. Ein Kern geblieben. Ein Skelett mit gut durchtrainiertem Muskelüberzug, funktional wie wie eine Maschine und ästhetisch wie der David von Michelange- lo, geschaffen von einem Künstler, herangezüchtet und veredelt wie der überaus köstliche Wein im Chateau Neuf du Pape, von dem er vergangene Woche noch hatte eine Flasche genießen können. Wegen des Fehlens einer Ententerrine flankiert von drei verschiedenen handgemachten seltenen Salamis und gutem Käse, knusprigem Steinofenbrot. Sie hatten wie viel zu selten zusammen gesessen, die Zukunft geplant, geplaudert und süffisant gelästert, nicht böse, sondern liebevoll distanziert, über Musik, Literatur und Kunst gesprochen. Anerkennend neue Arbeiten junger Kollegen besehen. Ein geheimes Einverständnis und Verstehen, ausschließlich wie ehedem.

Herr Nipp sah, dass sein Publikum mitfieberte, an seinen Lippen hing, er hatte das Gefühl, mit jeder besonderen Betonung auch eine Steigerung der allgemeinen Gefühlslage herbeizuführen. Er sah sich als Dirigent eines großen Klangkörpers und würde gleich zu seinem absoluten Höhepunkt finden. Doch genau in diesem Moment trat er versehentlich nach vorne, setzte strauchelnd über den Bühnenrand hinweg, verlor das Gleichgewicht und schlug hart mit der Kauleiste auf die erste Sitzreihe.

 

***

Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421