Eine Erinnerung an Zoltan Vér, ein ungarisch-österreichischer Dichter und Lebenskünstler. Geboren 1924 in Budapest/Ungarn, gestorben am 14.06.2001 in Wien.
Ein sehr eigenartiger Mensch war der ungarisch-österreichische Dichter Zoltan Vér (sprich: Scholtaan Veer, letzteres Wort mit schmalem, auseinandergezogenem Mund wie beim Wort „Beere“, so hat mir das Zoltan immer wieder mich streng korrigierend erklärt). Daß Zoltan ein Dichter war, das wußten nur er selber und ein paar von ihm sorgfältig ausgesuchte Vertraute. Er hatte einen großen Bekanntenkreis, da er fast auf jeder Veranstaltung war, aber nur bei solchen der bildenden Künste, denn den Literaturbetrieb und alles was damit zusammenhing, verachtete er zutiefst. Er weigerte sich auch beständig, irgend etwas von seinem Werk zu publizieren – „Nein, wirklich nicht, ich prostituiere mich doch nicht!“ sagte er des öfteren entrüstet zu mir, wenn ich ihm riet oder sogar meine Hilfe anbot, diesen Weg zu beschreiten. „Ich habe mein Notizbuch, das genügt mir“, pflegte er zu sagen. Und schon zog er dieses schmale Notizbuch aus der Innenseite seines Rockes oder seines Mantels und sagte: „Nur ein Gedicht, Paul, nur ein Gedicht!“ Und er stellte sich sogleich unter die nächste Straßenlaterne oder vor ein noch hell erleuchtetes Schaufenster, denn ein solcher Augenblick war meistens lange nach Mitternacht, und dann las er mir nicht ein Gedicht, sondern immer mehrere Gedichte und dann noch eins und noch eins bis zum „Geht-nicht-mehr“ vor. Und wehe, man machte ein Anzeichen, endlich gehen zu wollen. Dann war man in seinen Augen auch „einer von diesen Banausen“, die er – so wie eigentlich die ganze Gesellschaft – verachtete. „Alles Banausen“, pflegte er mit einer wegwerfenden Handbewegung zu sagen. Sich selbst hielt er für einen großen Dichter, für einen, der die Einsamkeit des Dichtens und im Dichten und in den eigenen Gedichten brauchte, vielleicht weil er auch nicht anders konnte. Zoltan Vér hat nie eine andere Lesung als diese „Laternenlesungen“, wie ich sie nannte, abgehalten. Er hätte sich nie in und bei einer öffentlichen Lesung „prostituiert“. Nein, der Zoltan war anders. Für ihn zählte nur der reine Gedanke, die reine Poesie. Alles andere interessierte ihn nicht, lehnte er ab, das hatte keinen Platz in seinem Leben. Von seinem Tod erfuhr ich aus der Zeitung; aus einer Zeitung, die ich aus einem Zeitungsbündel entnahm, das verschnürt und für irgendwen abholbereit in einer schäbigen Schiffahrtsstation am Ufer der Donau in Budapest lag. Ich war an der Zeitung interessiert, schlug sie auf, blätterte sie durch; und plötzlich sah ich den Namen „Zoltan Vier“ auf einer Todesanzeige am Ende der Zeitung. Ich erinnere mich: Es hat mir einen Stich ins Herz gegeben. Dann habe ich ihm einen Gruß hinauf ins Irgendwohin hingeschickt und gesagt: „Also, Servus, Zoltan Vér (Veer!), egal wo du bist, ich schick dir einen Gruß aus deiner Heimatstadt!“ Wo wohl sein Notizbuch mit seinen Gedichten geblieben ist? Ich weiß es nicht. Einem Kulturattaché vom Collegium Hungaricum und meinem ungarischen Freund Gábor Görgey, der ja sogar für kurze Zeit Kulturminister in der ungarischen Regierung gewesen ist, habe ich gesagt: „Sucht doch das Gedichte-Notizbuch vom Dichter Zoltan Vér!“ Aber ich glaube nicht, daß sie das veranlaßt oder getan haben; sie hatten wahrscheinlich Wichtigeres zu tun.
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Schriftstellerbegegnungen 1960-2010 von Peter Paul Wiplinger, Kitab-Verlag, Klagenfurt, 2010