Gustav rührte in seinem schwarzen Kaffee rum. Das Getränk war heiss und bitter, und er gab es mit einem Ruck in sich rein, denn wichtiger, als wie’s ihm schmeckte, war eh, einfach wach zu werden, wenn er auch nicht wusste, wofür.
Gegen Mittag tauchte, so war ja auch verabredet gewesen, Daniel auf Dunstiges Grau hing in den Strassen, die Glasscheiben des Cafés schienen dreckverschmiert, dabei war es das Wetter, durch das jeder Blick wie durch dunklen Schleier wirkte.
Daniel studierte Informatik und war beschäftigt an einem Projekt der angewandten Systemtheorie.
Ein Zusammenschluss deutscher Unternehmen, der das Land im internationalen Wettbewerb durch innovative Vorsprünge im Bereich der Wissenschaft voran bringen wollte, hatte Daniel angestellt, und die Jungs zahlten ein gutes Gehalt.
Zuerst hatte Gustav ihn bewundert, weil er so ungeheuer versiert im Umgang mit den Mitmenschen war, eine regelrechter Virtuose kultureller Konventionen, der sich auf Partys zwischen den anderen Menschen elegant bewegte wie ein Eiskunstläufer.
Gustav war noch neu in der Stadt, und Daniel hatte gemerkt, dass Gustav sich ein bisschen auskannte mit Natur-Religionen und Indianer-Mythen, und so begann er ihn zu umwerben: er nahm ihn zu Partys mit, lud ihn zu sich ein, zeigte ihm Kneipen und Discos. Für Gustav war das zunächst ganz O.K., erst später fiel ihm auf, dass Daniel sich weniger für ihn als mehr für die systemische Struktur von Archetypen interessierte. Für Daniel gings um die Übersetzung von Mythen in Computersprache, ja um die Beschwörung der mythischen Kräfte durch Software statt schamanischer Tänze.
Es ging um einen direkten Zugriff der Computer auf die Metaphysik, konkreter: um die Programmierung der platonischen Ideen. Seit Erfindung der Systemtheorie und später der Kybernetik, zunächst durch den Amerikaner Gregory Bateson in den 40ern, in den 70ern und 80ern dann von dem Bielefelder Niklas Luhman weiter entwickelt.
Die zunächst rein geisteswissenschaftlich orientierte Philosophie, eine gerade Linie aus Begriffen und Konzepten von Platon über Kant, Hegel, Heidegger bis Habermas, wurde in den USA erstmals geknickt, indem die Systemtheorie nämlich aus der Biologie theoretische Konzepte in die Philosophie überführte, dort einsetzte: waren die platonischen Ideen bislang rein geistiger Natur gewesen, verglich man sie jetzt mit Vorgängen in Tieren und Pflanzen.
Während die Physik also zunehmend abstrakter und abgehobener, also metaphysisch wurde, beantwortete man Fragen der Metaphysik jetzt ganz irdisch, mit Erkenntnissen aus der Tier- und Pflanzenwelt. Das ging schliesslich soweit, dass Bateson vorschlug, Gott als kybernetisches System zu definieren, und Luhmann ihn für die Autopoiesis der Welt hielt.
Angesichts dieser Änderungen grundsätzlicher Annahmen über das Wesen Gottes und der Welt, lag’s freilich nahe, dass die Wirtschaft nach ihren Chancen und Möglichkeiten fragte, denn nach was anderem fragt die eh nie und aufmerksam muss sie eigentlich auch immer auf sich machen. Ihr erster Gedanke war, ob sie, die Wirtschaft nicht einfach die ganzen Umwege, indirekte Manipulation durch Werbung und über sonstige Massenmedien, umgehen könnte, einen direkteren Weg zur Steuerung der Bevölkerung finden konnte, ja ob man nicht die platonischen Ideen direkt programmieren könnte.
Bisherige Programme zur Manipulation der Bevölkerung krankten ja an der Schwierigkeit, die Auswirkungen propagandistischer Massnahmen im Individuum exakt zu berechnen – dank der Psychologie wusste man zwar, wie die Seele des Menschen funktioniert, doch man kam einfach nicht unvermittelt an sie ran.
Zwar betont auch die Systemtheorie die Abgeschlossenheit und Unzugänglichkeit des Menschen, der hier als System mit klaren Grenzen beschrieben wird und nur über Schnittstellen mit der Umwelt kommuniziert – aber der Wirtschaft ging’s ja gar nicht um einzelne Personen. Man wollte die Menschheit als neuronales Netz, insgesamt umprogrammieren. Die strukturelle Identität aller Systeme mit dem Absoluten, dem Gott-System könnte dies ermöglichen. Die aktuelle Frage lautete also demzufolge: wie programmiert man das Gott-System? Zur Beantwortung dieser Frage beschäftigten sie Daniel.
Daniel sass an seinem Platz und rührte so beruhigt in seinem Kaffee, als ahne er nicht im geringsten, welch schrecklichen Plänen seine Arbeit diente. Man hatte ihm lediglich erzählt, es ginge um eine Schnittstelle zwischen Rechner und dem kybernetisch Letzten. Das war für jeden Informatiker eine Herausforderung, und so begann er mit der Simulation von Archetypen und ihrer Reaktion in einem Synchronizitäten-Generator.
Für Daniel privat waren die Ergebnisse mehr als bloss erstaunlich. Um nicht zuvielen Leute seine Arbeiten zeigen zu müssen, nahm er zunächst sich selbst als Versuchsperson.
Es gelang ihm ein paar Archetypen zu reaktivieren und über den Rechner tatsächlich Synchronizitäten zu forcieren.
Er reaktivierte das Icon seiner Ex-Freundin, und als er spät Nachts Feierabend machte, kam sie, ein wahnsinniger Zufall, vor dem Gebäude vorbeigeradelt, weil sie eine Schallplatte in einer Tankstelle vergessen hatte.
Er reaktivierte das Icon eines frühkindlichen Konflikts mit den Eltern, und tatsächlich rief nur drei Stunden später sein Vater an, verstrickte ihn in eine merkwürdige Diskussion über ein Problem, das Daniel nicht verstand, und brach unerwartet das Gespräch ab.
Der Archetypen-Reaktor mit Synchronizitäten-Generator schien ein echter Hit zu sein! Es verstand sich wohl von selbst, dass Daniel als nächstes ein paar angenehme Archetypen reaktivierte, er verbrachte die Freizeit so mit angenehmen Zufällen. Aber seine Erfolge konnte er auf Dauer nicht für sich behalten. Eine Woche – ja; vielleicht zwei. Es hätte auch möglich sein können, den Auftraggebern zu sagen, man hätte nichts erreicht, um die geile Erfindung für sich geheim zu behalten.
Zu diesem Zweck knobelte Daniel sogar einen ganz schrillen Archetypen aus, der ihm noch den würdigen Abgang einer für praktische Anwendungen zu talentierten Person verschaffte – doch es gab etwas, das ihn mehr reizte als alle Synchronizitäten der Welt: das war die Geld, das ihm durch eine Kooperation zukäme.
Die beiden jungen Männer sassen einander so gleichgültig gegenüber, dass sie fast Freunde hätten werden können. Es war die stille Stunde nach fünfzehn Uhr. Synthimusik rieselte aus den Soundgeneratoren.
Gustav hatte weniger Glück gehabt, er bekam lediglich einen Job als Werbecutter in einer Sendeanstalt. Seit es in Deutschland Privatfernsehen gab, beschäftigte Stammtischtüftler und Pantoffelphilosophen vor allem eine kniffelige Frage – und es war nicht die Frage nach Ökonomisierung der Solarenergie.
Es ging darum, wie ein Videorekorder sein müsste, der beim Aufzeichnen von Spielfilmen die Werbeblöcke zwischendurch nicht mitnimmt. Künstliche Intelligenzen waren noch nicht soweit entwickelt, dass sie in der Lage wären, den Beginn einer Werbesendung allein zu erkennen. Ausserdem sahen sie ja bei jedem Sender anders aus. Da war es viel Einfacher, nach dem Prinzip des Verkehrsfunks zu gehen, also zusätzlich zu den Sendungen ein Signal, das Beginn und Ende von Werbeblöcken ankündigt, in alle Haushalte zu übertragen.
Damit wurde aus dem technischen ein strategisches Problem, denn dass die Sender so ein Signal nicht senden wollen, muss kaum erklärt werden. Dabei wär das am einfachsten gewesen.
Stattdessen griff man auf eine umständlichere Lösung zurück: ein extra Studio zur Beobachtung aller TV-Kanäle und Absendung der entsprechenden Signale an die Videorekorder der Nation wurde eingerichtet. Die Einrichtung war easy: die dreissig TV-Geräte besorgte man sich aus Second-Hand-Läden, die übrige Elektrik bauten ein paar Bastler an wenigen Wochenenden. Findige Studenten hatte das Gewerbe schnell angemeldet.
Gustav verdiente einen ganz üblichen Stundenlohn, aber er musste aufmerksam und konzentriert, als handele es sich um die Zentrale eines Atomkraftwerks, dreissig Bildschirme verfolgen, bei jedem Anfang eines Werbeblocks, bei jedem Ende einen Knopf betätigen. Da es für jeden Sender ein extra Signale für Anfang und Ende geben musste-und bei dreissig Kanälen eigentlich immer irgendwo ein Werbeblock begann oder endete, war er wie an den Anblick der Bildschirme gefesselt, und Gustavs Knöpfedrücken erinnerte an ein Klavierspielen auf einer Tastatur.
Sein Job war also, obwohl eigentlich total leicht, ganz schön höllisch: die Tatsache, dass alle Fernsehsendungen manipuliert sind und ihrerseits den Zuschauer manipulieren, ist ja allgemein bekannt.
Doch ist das für die meisten Menschen nicht so schlimm, weil sie das Fernsehen nicht wirklich ernst nehmen, aus purer Langweile einschalten, die Programme nicht aufmerksam verfolgen, nebenbei quatschen, fressen, lesen, schlafen oder sich nur an den bunten Bildern berauschen. Gustav war in seinem Job der einzige Mensch auf der Welt, der konzentriert längere Zeit aufmerksam und genau hinguckte:
Nachmittags bei Viva konnte er sich noch einreden, das sei alles nur Quatsch; abends bei Akte-X musste er schon achtgeben, den Schwachsinn nicht an sich ran zu lassen; doch als Scientology-TV auf Sendung ging, musste er da raus – sofort!
Natürlich durfte er seinen Platz nicht einfach so verlassen. Schliesslich hing das Glück Millionen Videoglotzer von seinem Knöpfedrücken ab! Und die Studenten hatten in den Arbeitsvertrag Schadensersatzklauseln eingebaut, die ihn für alle Pannen zur Rechenschaft zogen. Indes blitzten die Bildröhren immer wilder, sie rumpelten und röhrten wie in Metamorphosen, als wollten sie sich jeden Augenblick häuten und in Monster verwandeln.
Da half nur noch Eins: Gustav griff zum Telefon und rief Daniel an: „Programmier‘ mir eine Synchronizität, die mich hier rausholt!“ schrie er. Das musste sein!
Zwar war Daniel nicht unbedingt der Typ, der gerne Gefallen erledigte; allerdings war Gustavs Situation mehr als bitter und für Daniel hiess es nicht mehr als Icons anzuklicken. Er setzte die notwendige Synchronizität in Gang – und dann kam Gustav da raus. Als sie einander am Abend begegneten, war Gustav vollkommen begeistert von dem Erlebnis mit der programmierten Synchronizität. Wie durch einen wunderbaren Zufall hatten Japaner in Osaka einen Chip entwickelt, der Frequenz- unterschiede beim Umschalten der Sendeanstalten von einer Quelle auf eine andere merkte, so also den Wechsel von normalem Programm auf Werbung ohne menschliches Erkennungsvermögen feststellte.
Der Chip kostete freilich nur ein Bruchteil der ZSV (Zentrale zur Steuerung intelligenter Videorecorder), so dass die Betreiber ihr Ende absehen konnten. Sie entliessen Gustav noch am gleichen Tag – zwar hätte man bis zur restlosen Verbreitung des neuen Chips die ein oder andere Mark machen können; doch man wollte keine Zeit und keine Energien mit Projekten ohne grössere Zukunft vergeuden.
So kam es also, dass Gustav über die Bürgersteige hüpfte, das zwitschern der Vögel und das Rauschen der Blätter in den Baumkronen wahrnahm wie zum ersten Mal in seinem Leben.
„Zwei Tee und zwei Kuchen“, bestellte Gustav. „Mann, deine Synchronizitäten-Erfindung ist eine Bombe!“ gestand er Daniel, der das freilich schon lange wusste und nichts tat als eitel zu Lächeln. Beide wussten genau, dass weder übertriebener Dank noch gleichmütiges Selbstverständlich tun der Situation angemessen wäre. Doch sie verschoben das, was später käme, aufs Später, der Narben-Kellner brachte das Essen und Trinken.
An der Decke rührten schwerfällige Ventilatoren eine Luft, die verraucht und mit den hell-orange gestrichenen Wänden des Cafés tatsächlich an frischen Orangensaft im Mixer erinnern mochte. „Für wen machst Du das eigentlich?“
Wenige Sekunden darauf bereute Daniel seine Frage schon wieder. Das Gesicht des anderen wirkte verschoben, irgendwie irritiert und gleichzeitig in der Irritation eingefroren, also im Zustand einer wichtigen aber lähmenden Erkenntnis. Gustav bekam Angst, die Sorge, eine Frage zuviel gefragt zu haben, eine Frage, die man nicht ungestraft fragte; doch Daniel staunte bloss darüber, dass er die Antwort nicht wusste. Verlegen zuckte er mit den Achseln und kicherte peinlich berührt: er hatte nie gefragt, so sehr hatte ihn die Identität seiner Auftraggeber nicht interessiert.
„Aber ich kann ja mal fragen“, schlug Daniel vor, ganz lässig, als handele es sich um nichts mehr als die Frage nach der Uhrzeit. Ein flaues Gefühl im Magen sagte Gustav, man könne die Auftraggeber nicht gar so leicht fragen, wer sie seien. Doch Daniel wollte beweisen, wie gut er mit ihnen stand (irgendwie schämte er sich wohl für seine Unwissenheit bezüglich ihrer Identität), er hielt das Funktelefon bereits in der rechten Hand und klickte die Nummer.
Doch statt des erwarteten Freizeichens hörte er die Töne eines analog codierten Archetypen. Sein Wissen von analoger Codierung reichte nicht aus, um die Sounds bis ins Detail zu entschlüsseln, doch der Angriff, so viel war klar, galt den beiden. „Schnell, unter den Tisch!“ riet Daniel. Dann raste ein LKW, der mit achtzig Sachen aus einer Kreuzung geglitten war, durch die grosse Glasscheibe des Cafés und zermalmte unter seinen gewaltigen Rädern Möbel, Kaffeetassen, Zeitschriften und dreiundzwanzig Gäste.
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Clockwork Orwell, von Thomas Nöske. 1. Auflage. Unrast Verlag, Münster 1997
Weiterführend →
Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.