Pilot & Perle

 

Die Massen zogen eilends an ihnen vorbei. Sie wussten zwar nicht wohin, wollten aber schnell dort sein. Ansgar und Shari ließen sich in diesem Strudel treiben. Er nahm sie an die Hand und zog sie zum Thriller.

»Irgendwie gut hier«, kreischte Shari aus vollem Herzen. Sie liebte die Cranger Kirmes, hier war ihr Kinderland, in das sie immer wieder neu eintauchen konnte. Es roch nach frischem Popkorn, Kokosnüssen und Liebesäpfeln.

»Ne Pille und dat ganze is‘ voll der Trip!«, gab er den Plan vor. Er hatte in Holland eine der alten DOM’s bekommen, 48 Stunden garantiert. Und keine Sekunde verpassen.

»Voll geil! Biste mein Pilot!?!«, gab sie ihm bis auf Widerruf das o.k., um die Bitterkeit und Unbarmherzigkeit, den Witz und die Sehnsucht in seinen gackerigen Worteskapaden zu erfassen. Es war die ihm eigene Mischung aus arhythmischer Phrasierung und melancholieumflorter Melodiosität, halsbrecherischem Versmaß und geradlinigen Grooves, die sie ins Mark traf.

»Will’sse da mitfahren ?«, fragte Ansgar.

»Klar‘ eh! Thriller is‘ voll der Killer!«

Der allgemeine Geschwindigkeitsrausch hatte sie erfasst. Rasant flogen die Waggons durch vier Loopings ans Ziel. Ihm wurde schwindelig vom Hinsehen. Shari war glücklich darüber, dass die größte transportable Looping–Achterbahn nach zweijähriger Pause endlich zurückgekehrt war. Niemand wusste genau, ob die Statik sicher war, gerade das machte den Kitzel aus. Und niemand wusste genau, wie die Schausteller an ihre Stellplätze kamen. Wie Kneipiers immer wieder an die Filetstücke kamen. Angeblich soll es Kanäle für Schmiergelder an Beamte der Stadt geben… doch genaueres ließ sich nicht nachweisen, man sah nur zufälligerweise die Abgeordneten an bestimmten Bierständen stehen, an denen sie anscheinend mit einer anderen Währung zahlten als die übrigen Besucher.

Shari verfolgte mit aufgerissenen Augen die herabstürzenden Wagen. Zeit, um die Feuertaufe zu bestehen. Der Himmel über ihnen glänzte rötlich. Abenddämmerung stellte sich ein. Zeit, den Sternen entgegenzuschießen.

»Ehj Alter, wir müssen einsteigen…«, riss Sharis Stimme ihn aus seinen Gedanken. Ansgar und Shari stiegen ein, setzten sich und klappten die Haltebügel runter, »häls’te dat durch?«

»Klar doch!« Ansgar verspürte ein Rucken. Die Wagenschlange setzte sich in Bewegung. Die Waggons wurden schneller. Der Druck auf den Ohren stärker. Die Augen weiteten sich, das Gesicht erstarrte im Grinsen des Rauschs.

»Wenne dat durchhältst, sterb‘ ich für dich!«

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

Weiterführend →

In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.