Zeremonie der amoralischen Unschuld

 

Sie klappte die Lider hoch und war wach. Setzte die nackten Füße lautlos auf den Boden. Schlich in die Kühe. Zog die Schublade auf. Griff zur Waffe um die Wut zu entladen. Ging mit der Walther PPK im Anschlag ins Wohnzimmer.

Entwarnung. Der Hase bollerte mit dem Käfig gegen die Balkontür. Jacqueline atmete aus, ging in die Küche und setzte einen starken Kaffee auf. Sie hatte gelernt, dass es besser war, den Tag mit einem festen Ritual zu beginnen, als ausschließlich ihren Neigungen zu folgen.

Ihr erster Mord geschah zufällig. An ihrem 12. Geburtstag führte Onkel Fritz eine Neuerwerbung vor, ein Präzisionsgewehr mit Zielfernrohr. Mitten in der Vorführung wurde er von ihrer Tante zum Telefon gerufen. Sie lehnte das Gewehr über den Balkon und betrachtete damit die Stadt. Alles schien mit einem Mal so nah zu sein. Sie sah Menschen, die sich mit gleichgültigen Gesichtern in der Menge verloren. Einen besonders unglücklich Dreinschauenden nahm sie aufs Korn. Verfolgte ihn bis zu einer Haltestelle, wo er sich erschöpft auf einen Stuhl setzte.

Sie wurde vom Rückstoß an die Wand geworfen. Schlug sich den Ellbogen auf. Stellte das Gewehr in den Waffenschrank und besorgte sich aus dem Erste–Hilfe–Kasten ein Pflaster.

Zeremonie der amoralischen Unschuld. Sie kümmerte sich nicht um ihre Opfer. Weder im Privatleben, noch im Beruf. Um sich die zehn Kirmestage leisten zu können, hatte sie ihre Drückerkolonne zur Höchstleistung getrieben. Sie könnte völlig ausspannen, eine Affäre haben, wie etwa mit dem schwarzhaarigen Kerl, der ihr auf dem Pferdemarkt aufgefallen war. Dieser Gedanke versetzte sie in eine beinahe fröhliche Stimmung.

Jacqueline schlug die WAZ auf, suchte vergeblich nach einem Artikel über den toten Hund und die Wasserleiche. Wahrscheinlich war die Polizei informiert. Man gab zu dieser Zeit keine Informationen preis. Das größte Fest im Ruhrgebiet sollte ohne Störung ablaufen. In der Zeitung las sie, dass Obdachlose auch in anderen Bundesländern umgebracht worden waren. Ohne Motiv und nachvollziehbares Geflecht. Immer suchte man nach dem Grund, nach einer Logik. Nicht nur die Polizei aus Wanne hatte vor einem Rätsel gestanden und versuchte mit Akribie, die letzten Tage im Leben des Toten unter Zuhilfenahme der Bevölkerung zu rekonstruieren. Es ließen sich kaum brauchbare Indizien zusammentragen. Wer schert sich schon um einen ermordeten Penner? Die Polizei hatte eher mit widersprüchlichen Angaben als mit fundierten Aussagen zu tun. Serienmörder haben kein Schattenbild, das sie zum Menschen machen könnte. Ihr einziger Ausdruck ist das Töten.

 

 

Fortsetzung folgt.

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Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

Weiterführend →

In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.