PFLAUMENFLAUM
Sonne
tropft milchig
durch halboffne Knospen.
„Gedichte sind klein, sie sind niemals eine Kleinigkeit“: Diesen Aphorismus von Peter Hacks zitierte ich bereits im Nachwort zu Andreas Nogas Gedichtband Hinter den Schläfen. Wurde der Gedanke den Gedichten von Noga bereits gerecht, so wirkt er im Kontext der Lyrik von Heike Smets wie eine tiefgreifende Erkenntnis, denn kleiner als die Gedichte von Heike Smets können Gedichte wohl kaum sein („Minimalgedichte“ nennt sie der bayerische Künstler und Dichter Thomas Glatz, der bekennender Heike-Smets-Fan ist) – und doch birgt so manches unter ihnen ein großes Bild und, ja, eine weise Erkenntnis. Als ich zu Heike Smets sagte, sie sei eine weise Dichterin, wies sie das Wort „weise“ zurück – verstand offenbar in dem Augenblick nicht, wie ich das Wort meinte. Wir beließen es dabei. An dieser Stelle möchte ich nun einen weiteren Aphorismus zitieren, den ich in William Shakespeares „Hamlet“ gefunden habe: „More matter, less art“. Beispielsweise so wollte ich das Wort „weise“ verstanden wissen. Im Anschluß an dieses Gespräch blätterten wir noch gemeinsam in skandinavischen Gedichtbänden und fanden bei Snorri Hjartarson, dem großen isländischen Lyriker, das Gedicht
BILD
Rot
in der ausgestreckten Hand
des Berges
die Morgensonne
Ich äußerte den spontanen Gedanken, das Gedicht könnte auch von ihr sein. Heike Smets lächelte bloß versonnen vor sich hin: Sie ist nicht so vermessen, ein derartiges Kompliment offensiv aufzunehmen. Die kleinen Gedichte folgen einander in gleichsam rasender Geschwindigkeit – kurvige Berg- und Talfahrten nachempfindend bzw. vor Augen führend. Ich hatte bei den ersten Überlegungen zunächst an ein Buch mit einem kleinen Gedicht pro Seite gedacht und war natürlich um so überraschter, als Heike Smets mich mit ihrem Manuskript konfrontierte. Ich reagierte zunächst ablehnend, entdeckte aber zunehmend die Weisheit ihrer Entscheidung, viele Gedichte auf eine Seite zu bringen. Für mich spiegelt die Anordnung der Gedichte die Paradoxie, daß wir immer wieder Bildern begegnen, die es eigentlich wert sind, zur Kenntnis genommen und verinnerlicht zu werden, aber schon rasen wir weiter (oder vielleicht besser: werden wir weitergezogen?) auf das nächste Bild zu. Hier im Buch haben wir natürlich die Gelegenheit, immer wieder zu bestimmten Versen und Bildern zurückzukehren, aber während einer Fahrt mit dem Auto durch die Eifel (oder anderswo) tun die meisten das nie und auch ich eher selten. Günter Grass betonte bereits in den 1950er Jahren: „Jedes gute Gedicht ist ein Gelegenheitsgedicht; jedes schlechte Gedicht ist ein Gelegenheitsgedicht; nur den sogenannten Laborgedichten ist die gesunde Mittellage vorbehalten: nie sind sie ganz gut, nie ganz und gar schlecht, aber immer begabt und interessant.“ Heike Smets’ Gedichte kennen keine Mittellage, und sie entstehen nie als „tour de force“. Offenbar verpaßt sie keine Gelegenheit, die sich reihenweise bietenden Gelegenheiten beim lyrischen Schopf zu packen, um in einem ihrer kleinen Gebilde ihre einmalige Sicht der Dinge zu entwerfen. Beim Lesen schmunzle ich und schüttle den Kopf, rümpfe die Nase und nicke und lasse mich in den zentrifugalen Sog dieses eigenwillig gestalteten Lyrikbuches hineinziehen, in dem ich der – auch immer wieder nüchtern und bestandaufnehmend wirkenden – natürlichen Stimme eines Menschen lausche, dem Lyrik nicht zweite, sondern erste Natur zu sein scheint.
* * *
Farben, von Heike Smets. edition bauwagen 2001
Zweihundert Kurzgedichte, kopiert und mit Tintenstrahl gedruckt, acht originale Linoldrucke von Karl-Friedrich Hacker, Nachwort von Theo Breuer, 55 unpaginierte Seiten, 35 signierte
Weiterführend → Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.
→ Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale Projekt „Wortspielhalle“ zusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph Pordzik, Friederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.