Giancarlo versuchte sich Richtung Cranger Tor vorzuarbeiten. Wie Billardkugeln berührten sich die Menschen und stießen schnell von einander ab. Kein Entkommen. In den Hinterhöfen hatten es sich die Anwohner vor dem Grill bei einem Fass Bier gemütlich gemacht. Holztische, Holzbänke, alles schlicht und betont unprätentiös. Mit einem Mal fühlte er sich zu Hause, setzte sich mit einem Anflug von Sentimentalität an einen der Tische. Spürte die Hitze, schlürfte ein kühles Pils und sah den Menschen beim Flanieren zu. Die Meisten gingen auf die Wildwasserbahn, um sich dort abzukühlen und wieder klar im Kopf zu werden.
Schwarze Händler priesen Lederjacken, Shirts und Schals an. Pakistani versuchten, junge Frauen von den Modefarben Puderbeige und Ginstergelb zu überzeugen. „Rieche ich sie…“, fragte sich Giancarlo „…oder rieche ich ihr Parfüm?“ Giancarlo zuckte unmerklich zusammen. Er hatte das schattenhafte Gefühl, jemand belausche seine Gedankengänge. Ließ ein weiteres Bier kommen. Heute Nacht wollte er sich einen auf die Lampe gießen, so lange, bis das Licht ausging. Er schlürfte das dunkelgelbe Bier durch den Schaum in einem Zug. Legte der Kellnerin das Geld auf den Tresen, schlenderte auf die Meile der Budengassen zu. Zögerte angewidert. Ging daran vorbei. Merkte, dass er bereits einen leichten Schwips hatte, taumelte leicht und stieß gegen Männer, die ihn wissend angrinsten. Besonders die Frauen lächelten.
Er ließ die Bierstände links liegen. Aus einer Braterei stieg ihm der Geruch von altem Oel, Knoblauch, geschmorten Zwiebeln und Schweinefleisch in die Nase. Der Fisch wurde in Kanada grün gekauft, in Holland geräuchert und alle zwei Tage frisch nach Crange angeliefert. Geröstete Mandeln kamen aus Spanien. Von den Cocos–Keeling–Inseln wurde das fettreiche Kernfleisch eingeflogen, geschält, in handliche Stücke geteilt und in einem Springbrunnen als Erfrischung angeboten. Junge Liebespaare bewarfen sich mit Popcorn, bissen zur Versöhnung in einen kandierten Apfel und schenkten sich Lebkuchenherzen mit ewigen Schwüren.
Vor dem alteingesessenen Cranger Hof zeigten Schilder mit dem Aufdruck DRK, Polizeibüro, nach links. Giancarlo stand unschlüssig über seine Richtung unter dem Cranger Tor.
»Wat is? Gehst du jetzt weiter oder nicht?«, pöbelte ihn ein Faktotum aus einem teigig aufgedunsenen Gesicht an. Sein Airbag hatte sich zu einem Medizinball ausgewachsen, er hatte sich bis zum Kragen zugeschüttet. Die Augen schienen aus seinem Gesicht rinnen zu wollen. Sie bleiben nur an ihrem von der Natur angestammten Platz, weil er nervös zuckend die Augenlider über die hervorquellenden Augäpfel schob.
»Molte bene! Questo non lo tollero.«
Der Grobschlächtige glotzte ihn irritiert an. Die Schwarzhemden waren doch damals die Ersten, die Vorläufer…
»Itaker. Verfluchter Kanake«, wurde Giancarlo zur Seite geschoben.
»Lo sa che lei e proprio un bel burlone!«, gab er retour. Lachte ihn aus. Nur wenn man in seinem Geschmack sicher ist, kann man sich auch einen schlechten leisten. Das braune Haar klebte schmierig am Schädel, mit dreckigen Händen griff er nach seinem Bier. Die Dumpfheit war nicht aus ihm rauszuprügeln. Kein Grund, sich die Finger schmutzig zu machen.
Auf dem Rummelplatz hatte man die Lichter angeschaltet. Die Sonne war untergegangen. In der Kneipen saßen die Zocker. Gierig warfen sie Münzen in die Spielautomaten. Träge und hundemüde saßen Gaffer vor ihrem Pils. Die letzten zehn Tage hatten sie aufgeschwemmt und langgemacht. Sie sehnten sich nach Schlaf.
Giancarlo schlenderte über das Kopfsteinpflaster von Alt–Crange, ging die vielversprechenden Budengassen entlang. Ließ den Stand mit den Luftballons, einen überdimensionalen Maiskolben, hinter sich. Schlenderte unter einem lapislazulifarbenen Himmel, über gelbe Schnipsel, zerstreute Lose, die sich als Nieten erwiesen hatten. Atmete die Gerüche tief ein, vermisste den Moder der Lagune und ging zum Kanal. Die Wasseroberfläche schillerte in der Dämmerung, beleuchtete einen Oelfilm, der darauf schwamm. Wolken spiegelten sich darin, wie große Frittenschalen. Enten landeten hinter dem abfließenden klebrigen Film auf dem Wasser.
Fortsetzung folgt.
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Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001
In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.