Ich-Entgrenzung

 

Ich habe keine schnellen Sätze, ich habe lange Fragen

Thomas Brasch

Thomas Brasch, Dichter, Dramatiker, Filmschaffender und Übersetzer, war eine der markantesten Figuren der jüngeren deutschen Literatur. Neue deutsche Dichtung, die von Goethe, Heine, Brecht, von Spruch und Lied herkommt, hat in ihm ihren Meister gefunden – und viel zu früh verloren.

Brasch wurde als Sohn jüdischer Emigranten im englischen Exil geboren. 1947 siedelte die Familie in die sowjetische Besatzungszone über. Hier begann die politische Karriere des Vaters Horst Brasch, die ihn bis ins Amt des stellvertretenden Ministers für Kultur der DDR beförderte. Thomas Braschs Mutter Gerda Brasch stammte aus Österreich. Sie war Journalistin und veröffentlichte Mitte der 1950er Jahre in einer Cottbuser Lokalzeitung das erste Gedicht ihres Sohnes.

Thomas Brasch besuchte von 1956 bis 1960 die Kadettenschule der Nationalen Volksarmee in Naumburg (Saale). Nach dem Abitur arbeitete er als Schlosser, Meliorationsarbeiter und Schriftsetzer. 1964/65 studierte er Journalistik an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Wegen „Verunglimpfung führender Persönlichkeiten der DDR“ wurde er exmatrikuliert und arbeitete erneut unter anderem als Kellner und Straßenbauarbeiter.

1966 wurde die Inszenierung seines Vietnamprogramms Seht auf dieses Land an der Berliner Volksbühne verboten. 1967 bis 1968 absolvierte Brasch ein Studium für Dramaturgie an der Hochschule für Film und Fernsehen Babelsberg. Im März 1968 wurde der gemeinsame Sohn Benjamin von Bettina Wegner geboren. Wegen der Verteilung von Flugblättern gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die ČSSR im August 1968 musste er sich gemeinsam mit Frank Havemann, Florian Havemann, Rosita Hunzinger, Sanda Weigl, Erika-Dorothea Berthold und Hans-Jürgen Uszkoreit vor Gericht verantworten. Er wurde zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt und nach 77 Tagen auf Bewährung entlassen. Danach wurde Brasch als Erziehungsmaßnahme als Fräser im Berliner Transformatorenwerk Oberspree (TRO) beschäftigt.

Auf Vermittlung von Helene Weigel arbeitete er 1971/1972 im Brecht-Archiv, wo er an einer Arbeit saß, die die Strukturelemente des Westerns mit denen des russischen Revolutionsfilms verglich. Seitdem lebte er als freier Schriftsteller. Mehrere Dramen, die zwischen 1970 und 1976 entstanden, wurden wegen ihrer Thematik und ihrer häufig experimentellen Form nicht aufgeführt oder nach kurzer Zeit abgesetzt, so z. B. die gemeinsam mit Lothar Trolle verfassten Lehrstücke Das beispielhafte Leben und der Tod des Peter Göring und Galileo Galilei – Papst Urban VIII.

1976 war Brasch Mitunterzeichner der Resolution gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann. Nachdem die Publikation von Prosatexten durch staatliche Stellen verweigert worden war, stellte er einen Ausreiseantrag und übersiedelte gemeinsam mit seiner damaligen Freundin Katharina Thalbach und deren Tochter Anna Thalbach nach West-Berlin. Sein noch in der DDR entstandener und kurze Zeit später beim Verlag Rotbuch erschienener Prosaband Vor den Vätern sterben die Söhne wurde ein großer Erfolg und brachte ihm nachhaltige Anerkennung bei den Kritikern.

1976 hatte die damalige inoffizielle Mitarbeiterin (IM) Anetta Kahane in einem Bericht für die DDR-Staatssicherheit die Brüder Thomas und Klaus Brasch als „Feinde der DDR“ bezeichnet.

1978 erhielt Brasch den Ernst-Reuter-Preis und 1979 ein Villa-Massimo-Stipendium. Er wurde 1982 Mitglied des P.E.N.-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland und wurde für den Film Engel aus Eisen mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnet.

1983 lebte er für ein Jahr in Zürich, wo er für den Film Domino den Occhio del Pardo d’argento erhielt. Sein Hörspiel Robert, ich, Fastnacht und die anderen wurde mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet. Ab 1986 übersetzte er mehrere Theaterstücke William Shakespeares ins Deutsche.

1992 erhielt er den Kritikerpreis der Berliner Zeitung. 1987 führte er in Der Passagier zum letzten Mal Regie in einem Kinofilm; Brasch konnte US-Weltstar Tony Curtis für die Hauptrolle gewinnen.

Nachdem Brasch seit dem Fall der Berliner Mauer für viele Jahre verstummt war und sich Gerüchte über Alkohol- und Drogenmissbrauch gemehrt hatten, überraschte er im Jahr 1999 mit seinem neuen Prosaband Mädchenmörder Brunke, der aus einem Manuskript von ursprünglich mehr als 10 000 Seiten entstand. Im selben Jahr kam es zur Uraufführung der Dramen Stiefel muß sterben und Die Trachinierinnen des Sophokles oder Macht Liebe Tod, im Jahr 2000 folgte Frauenkrieg. Drei Übermalungen. Sein letztes Stück, Eine Märchenkomödie aus Berlin, blieb unvollendet.

 

 

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Sie nennen das Schrei, Gesammelte Gedichte von Thomas Brasch. Hrsg. v. Martina Hanf u. Kristin Schulz. Suhrkamp, Berlin. 1030 Seiten

Weiterführend

 Die gesammelten Gedichte von Thomas Brasch, vorgestellt von Jamal Tuschick.

Sie nennen das Schrei, gewürdigt durch Jan Kuhlbrodt.

 Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.