Rauchen

 

„Hallo ist er da?“ „Hab ihn noch nicht gesehen.“ „Weißt du, ob er noch kommt?“

„Ich glaube, er wollte diese Woche nach Hause fahren.“ „Na dann…“

Nipp ging mit leicht geneigtem Kopf langsam den Gang zur Außentür entlang, überlegte ob er noch, ob er in eine andere Klasse schauen sollte, gab aber diesen Plan aus enttäuschter Lustlosigkeit heraus auf. Die Tür kam ihm entgegen, auch einige Studenten der Akademie, einige kannte er schon, andere waren ihm fremd, er grüßte keinen, erwartete auch nicht von irgendwem gegrüßt zu werden. Das geschah natürlich auch nicht, wer eine solch langweilige Unscheinbarkeit ausstrahlt, wird einfach nicht wahrgenommen. Dieses Gebäude machte immer einen bedrückenden Eindruck auf Herrn Nipp, jede Klasse war abgeschottet zur Außenwelt hin. Jeder baute sich seinen eigenen Elfenbeinturm der Kunst und künstlichen Intellektualität, so ließ sich leben, mag sein die einzige Möglichkeit in einer Akademie zu überstehen, wichtig war die Auseinandersetzung mit sich selbst und manchmal die mit dem Prof oder Kommilitonen, die sich erdreisteten, sich einzumischen. Nipp aber war das eigentlich alles egal. Er hatte einen Studenten gesucht, von denen eine Ausstellung großen Eindruck hinterlassen hatte. Er musste ihn unbedingt kennen lernen. Herr Nipp war nicht so kulturmuffelig, wie vielleicht seine vielgeliebten Nachbarn von ihm vermutet hätten, und die vermuteten wirklich eine ganze Menge, deren wichtigstes Hobby, wie er immer wieder vermutete. Dieser eine Student jedenfalls war der Anlass für eine Fahrt nach Münster gewesen, aber schon auf dem Weg zur Tür begann das Interesse zu verblassen, er würde wohl noch kurz ins Museum gehen, schauen, welche Sonderangebote an Ausstellungskatalogen auslagen.

Das Auto stand nicht ganz auf der Straße, doppelt Pech, der linke Außenspiegel hing an der letzten Schraube herab, scheinbar von einem netten anderen Autofahrer, der den Platz nicht richtig eingeschätzt hatte, abgefahren. „Scheiße, so eine verdammte Scheiße.“ Er ging angespannt, mit einer kaum erklärbar gemeinen Wut auf den alten Volvo zu, eine Amazone, und musste feststellen, dass eine freundliche Politesse ihm außerdem noch ein Knöllchen wegen Falschparkens hinter den Scheibenwischer geheftet hatte. „Scheiße, verdammte Scheiße.“ Etwas anderes zu denken, war er im Moment nicht fähig, er war vielleicht auch zu gar nichts mehr fähig, er hatte sich wirklich noch nicht entschieden. Das war also mal wieder einer dieser Tage, an denen alles aber auch wirklich alles schief lief, schon auf der Hinfahrt hatte nämlich der Wagen gestreikt, er hatte in regennasser Kälte aussteigen müssen, um den Verteilerkopf zu trocknen, der immer wieder Feuchtigkeit fing, wie um Nipp zu ärgern.

Ins Museum hatte er jetzt auch keine Lust mehr, also ab nach Hause. „Eigene Schuld, dass du nicht da warst, jetzt kauf ich eben keins deiner Bilder.“ Das hätte der liebe Herr Nipp zwar sowieso nicht vorgehabt, aber so konnte er sich wieder ein wenig hochziehen. Keiner seiner Nachbarn wusste, dass er heimlich malte, ganz für sich immer versteckt, kam mal wirklich einer dieser oder einer seiner äußerst wenigen Freunde, so versteckte er sämtliche Malutensilien unter einem Berg von Zeitungen und legte zur Wahrung seines Geheimnisses noch einige leere Dosen Ölsardinen darauf. Das fasste normalerweise wirklich niemand an, selbst im tiefsten Winter zogen seine Gäste es in solchen Momenten vor, sich mit Nipp auf der Terrasse zu unterhalten. Der Vorteil war, dass man nichts anzubieten brauchte, sparen wurde so zu eine seiner leichtesten Übungen.

Der Heimweg wurde diesmal über Land angetreten, aus Furcht davor, mal wieder auf dem Seitenstreifen der Autobahn liegen zu bleiben. Und die A1 war nicht unbedingt eine der angenehmsten Strecken. Kurz hinter Münster stand ein Anhalter im Nieselregen, Schlapphut auf und Zigarette im Maul. „Oh Scheiße (Das letzte Wort hatte heute wirklich die Chance zum meistbenutzten Begriff aufzusteigen.), die Siebziger sind doch jetzt wirklich schon so lange vorbei.“ Aus lauter Mitgefühl hielt er dennoch an, oder war es nur der sehnliche Wunsch nach etwas Unterhaltung und die Hoffnung, eine Zigarette abstauben zu können?

„Wohin willst du?“ Der künstlich ungepflegt wirkende junge Mann beugte sich herunter. Er hatte ein hübsch geschnittenes Gesicht, aber Nipp übersah das einfach und wiederholte seine Frage: „Wohin willst du?“ „Nach Hamm, kann ich mitfahren?“ „Scheißfrage, sonst hätt ich sicher nicht angehalten.“ Der Anhalter, er hieß übrigens Frank, aber Herr Nipp sollte das nie erfahren, er war übrigens der von Nipp gesuchte Student, aber auch das sollte er nie erfahren, wahrscheinlich hätte er ihn dann auch aus lauter Wut über die unnütze Autofahrt rausgeschmissen. Aber das konnte man nie voraussagen, also dieser Anhalter zog seine Tasche vor den Beifahrersitz und stieg äußerst umständlich ein. „Toller Wagen.“ „Ja.“ „Wie alt?“ „Keine Ahnung.“ Nipp wusste, wie man ein Gespräch unterbinden konnte. Fünf Minuten Schweigen. „Darf man hier rauchen?“ „Wenn du eine für mich über hast.“ „Ich hab Tabak.“ „Auch gut. Kannst du mir eine drehen? Beim Autofahren ist das immer so umständlich.“ Er hätte nie zugegeben, dass er gar nicht selbst drehen konnte. „Klar.“ Keine zwei Minuten später rauchten beide gemütlich ihre außergewöhnlich gut duftenden Zigaretten im ungemütlich kalten Auto, die Heizung war mal wieder kaputt, das zweite Mal im laufenden Jahr. „Nicht schlecht. Was ist das für Tabak?“ „Oh Shit, ich glaube mein Grasbeutel ist aufgegangen.“ Mit bester Laune also fuhren sie die jetzt plötzlich sehr kurze Strecke bis nach Hamm, Bahnhof. Frank stieg aus und bedankte sich höflich, Manieren, die keiner aus seinem Äußeren hätte schließen können. Der Tag des Herrn Nipp hatte eine Wendung erfahren, sollte er sich als tatsächlich noch angenehm entwickeln?

Aus dem Lautsprecher, einer funktionierte immerhin, dudelte ein Lied von Blumfeld, Zeittotschläger, passend für diesen Augenblick. Hinter Hamm fuhr Nipp dann doch noch auf die Autobahn, jegliche Angst hatte er verloren, das Einzige was ihn wunderte, waren die hinter ihm fahrenden Autos, die mit Lichthupe und Horn auf sich aufmerksam machten. Erst der Blick auf die Geschwindigkeitsanzeige brachte ihm die Gewissheit, dass es einfach zu langsam war, mit knapp unter dreißig die Auffahrt hoch zu kriechen. Der Rausch hatte irgendetwas mit seinem Schnelligkeitsempfinden angestellt, etwas, das Herr Nipp noch nicht kannte, wahrscheinlich auch nie wieder kennen lernen würde, aber wer konnte irgendetwas schon wissen, gerade bei ihm. Der Rest der Strecke war schnell hinter sich gebracht. Nipp stellte den Wagen in die dafür vorgesehene Garage und wollte das Tor herunterlassen, das aber verhakte sich auf der linken Seite, bekam Übergewicht und senkte sich langsam, immer schneller werdend, auf die Motorhaube. „Scheiße, aber was soll‘s.“ Nipp hatte eingesehen, dass dieser Tag einfach mal wieder nicht unbedingt der seine war.

Das Haustürschloss klemmte auch. Als er im Haus war, spitzte er sich einen Bleistift an, um das dabei entstandene Graphit an den Schlüssel zu schmieren und damit das Schloss leichtgängiger zu machen. Das klappte sogar, keine siebeneinhalb Minuten später war Nipp im Schlafzimmer verschwunden, mit dem ehrenwerten Entschluss, diesen Tag sich selbst zu überlassen.

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, dokumentiert auf KUNO 1994 – 2019

Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus). Über die historische Aufgabe von Herrn Nipp aus Möppelheim.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421