Unter der Sonne sein

Der Hahn

Jeder Morgen war ein einziges entblößtes Fenster,
war ein Hund, der voraus rannte, und war stets
eine ungeheure Gelegenheit, sich zu entscheiden
mit Haut und Haar wie über einem Schwimmbecken.

Aufsteigen der Sonne.
Auftreten mit dem ganzen Fuß.

Die Augen schließen, sich erinnernd gehen,
für jeden Schritt ein anderes Bein wählen,
immer ein anderes, eins für die Stufe, ein anderes
für die unsichtbare Blume,

den Korb umgehen und die in den Weg gestellte Kanne,
die Kurve meiden, den Stein, die Distel,
haltmachen und wissen, wo ich bin.

Unter der Sonne sein.
Auftreten mit dem ganzen Fuß.

Sich hinlegen, vom Kanten abbeißen
und vorgebeugt niederknien
übers Wasser, das trügt, steigen lassend
den schwarzen Grund und den erstarrten Fisch.

 

Das Gedicht „Der Hahn“, dessen erster Teil hier vorgestellt wird (in der Übersetzung von Angela Repka), gehört zu den frühen Werken von Jan Ondrus. Der slowakische Dichter wurde 1932 in der Ortschaft Arad geboren. Sein Vater war Bauer und Schmied. Nach dem Abitur studierte Jan Ondrus für kurze Zeit an der Prager Hochschule für Politik und Wirtschaft. Er begann früh Gedichte zu schreiben und zu publizieren und fand bald literarische Aufmerksamkeit und Anerkennung.

Die vier Verse der ersten Strophe des Gedichts „Der Hahn“ sind ein Beispiel für das, was man „rationale Metaphorik“ nennen könnte.

Jeder Morgen war ein einziges entblößtes Fenster,
war ein Hund, der voraus rannte, und war stets
eine ungeheure Gelegenheit, sich zu entscheiden
mit Haut und Haar wie über einem Schwimmbecken.

Keine schwer zugänglichen Satz- und Wortgebilde, sondern standardsprachliche Syntax und Semantik. Die Verblüffung des Lesers und sein kurz danach einsetzendes Verstehen kommen allein dadurch zustande, dass ein neuer überraschender Blick auf ein vertrautes Erlebnis, vertraute Regungen geworfen wird. Man  kann von einem „wissenschaftlichen“ Verfahren sprechen: Neuartige Beobachtungen werden an einem längst bekannten Sachverhalt gemacht. Doch spürt man trotz der Rationalität der Verse die starke Anteilnahme des Autors an dem Erlebnis, das er beschreibt.

Das wird noch deutlicher in der nächsten Strophe:

Aufsteigen der Sonne.
Auftreten mit dem ganzen Fuß.

Der Stimmungswechsel gegenüber der ersten Strophe, die Kürze der durch Punkte getrennten Verse, der elliptische Satzbau spiegeln die dramatische Stimmung der Aussage. Das wiederholt sich in der vorletzten Strophe:

Unter der Sonne sein.
Auftreten mit dem ganzen Fuß.

Mit der dritten und vierten Strophe erfolgt wiederum ein Wechsel von Stimmung und Gangart:

Die Augen schließen, sich erinnernd gehen,
für jeden Schritt ein anderes Bein wählen,
immer ein anderes, eins für die Stufe, ein anderes
für die unsichtbare Blume,

den Korb umgehen und die in den Weg gestellte Kanne,
die Kurve meiden, den Stein, die Distel,
haltmachen und wissen, wo ich bin.

Der hier von sich erzählt, ist vertraut mit dem Gelände, das er durchquert, vielleicht den väterliche Bauernhof. Er zeigt alle Symptome des Romantikers: Grazie, Anmut, Empfindsamkeit, Neurasthenie, Ironie. Kontemplative Ironie ist immer Selbstironie und so auch hier.

In der letzten Strophe kehrt der Ton der dritten und vierten Strophe wieder:

Sich hinlegen, vom Kanten abbeißen
und vorgebeugt niederknien
übers Wasser, das trügt, steigen lassend
den schwarzen Grund und den erstarrten Fisch.

Doch deutet sich in den letzten beiden Versen mit dem „Wasser, das trügt“, dem „schwarzen Grund“, dem „erstarrten Fisch“ eine Wende an, wird Gefahr signalisiert, Verlust an Sicherheit. Bedrohung.

Nur in wenigen Gedichten von Jan Ondrus findet man die relative Heiterkeit des hier vorgestellten Gedichts. Ondrus’ Leben war überschattet von Krankheit, konstitutionellen Problemen, vielfältigen Schicksalsschlägen, politisch bedingter Repression, und das alles hatte einen starken Einfluß auf seine Gedichte. Trotz der vielen Belastungen und Einschränkungen arbeitete er als Autor und Übersetzer bis zu seinem Tod am 7. November 2000.

 

 

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Jan Ondrus zählt zu den interessantesten slowakischen Dichtern der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts. Seine Gedichte wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Das hier vorgestellte Gedicht ist dem Band „Jan Ondrus, Ein Hut voll Wein“, Edition Thanhäuser, Ottensheim an der Donau, 2000, entnommen. Der Band enthält auch  ein sehr interessantes Nachwort der Übersetzerin Angela Repka und wichtige biographische Angaben.