Die letzte Nacht der Cranger Kirmes brach an

 

Jacqueline fühlte sich beobachtet. Spürte die Blicke fast körperlich. „Der Polyp? Oder der dämliche Ansgar und seine aufgegeilte Shari? Hat jemand den toten Hund als sein Eigentum erkannt und Strafanzeige gestellt?“ Sie seufzte. Hätte den Betrunkenen besser versenken sollen. Schlampigkeit machte sich nie bezahlt. Der Vierer–Looping zog unbeirrt seine Runden. Die Menschen kreischten. Es war immer so einfach, einen Mann zu töten. Sie fühlten sich als die Herren der Welt, glaubten eine Situation dominieren zu können und waren simpel gestrickt.

»Ehj, du ficki’ficki machen?«, krakeelte ein Spacko. Ein saftiger Tritt in die Eier und ihnen in das Gesicht spucken, wenn sie Luft holten und das Gesicht hoben. Nicht der Tritt war die vollkommene Erniedrigung, sondern Jacquelines sanftes Lächeln, der Griff ins Haar, der Kuss auf ihre blutige Lippen. Sie daran zu erinnern, wer sie ins Bett geschickt hatte. Das war die vollkommene Vernichtung.

Frauen zu töten hatte sich als schwieriger erwiesen, als Kerle zu erledigen. Obschon von Natur aus die Schwächeren und wesentlich vorsichtiger, hatten sich die Frauen als die Zäheren erwiesen. Welcher Mann wäre in der Lage, die Wehen bei einer Geburt auszuhalten?

Melissa, eine Studentin, die in ihrer Drückerkolonne arbeitete, hatte sie zur Strafe und nicht zuletzt zum Spaß in der Eifel drei Tage lang an ein Bett gekettet. Die Einnahmen von Melissa blieben auch nach der Züchtigung gering, und Jacqueline war abscheulich gelaunt. „Strafe muss sein!“ Der Ehrenkodex der schlechten Gesellschaft lautet: „Verrat ist schlimmer als Mord!“ Jacqueline hatte sie abermals mit Handschellen ans Gestell gefesselt, ihr Stornozettel und Regenwürmer, sonst nichts zu essen und nichts zu trinken gegeben. Anfangs weinte und bettelte Melissa. Nachdem Jacqueline sie ohne Gleitmittel mit einem Dildo vergewaltigt hatte, schwieg sie. Vor allem, weil es sie angeschärft hatte und sie nicht wusste, warum. Die Chefin glaubte, ihr Wille sei gebrochen. Melissa zitterte, als sie losgekettet wurde. Vor Angst, glaubte Jacqueline. Und küsste sie zärtlich. Dass Melissa vor Wut zitterte, wurde ihr erst klar, als diese ausgemergelte Hündin sie rücklings angriff.

Nachtschwarzes Nichts der Verwerflichkeit. Melissa endete mit einem Einschussloch der Walther in der rechten und einem Austrittsloch in der linken Schläfe, in einem dunklen Loch in der Eifel. Bewegte sich noch, als Jacqueline die ersten Brocken Erde auf sie warf. Getroffen im Schläfenlappenbereich konnte sie nicht orten, erkennen oder hören, was um sie herum geschah. Ihr Gehirn war vom Einschlag der Kugel in diesen Funktionen gestört. Ihr akustisches Zentrum und ihr Ortungssystem wurde von Blut überflutet. Blut, das eigentlich durch die Arterie fließen sollte. Vielleicht waren zu ihrem Glück auch die Stellen ihres Gehirns verletzt, die es zugelassen hätten, ihre Lage zu beurteilen. So blieb sie im Erdloch liegen, unkontrolliert zuckend. Jacqueline beerdigte sie. Zeitlupengleich fielen Erdklumpen auf sie nieder, bedeckten erst Beine, dann die Hüften. Ein zuckender Haufen Erde, aus dem weit aufgerissene Augen weißlich aus dem Grab geschimmert hatten.

Auf Crange war das Erlebnis eine blasse Erinnerung von Macht und die Erkenntnis, dass Frauen cleverer waren. Sie waren zäher, handelten umsichtiger, schätzten besser ihre Lage ein. Aus welchem Grund könnten sonst Frauen mit grobschlächtigen Wesen, die sich Männer nannten, zusammenleben? Das Leben eines Mannes konzentrierte sich auf einen Punkt. Auf einen Daseinszustand. Auf eine Schlacht. Einen Sieg. In einer Minute waren sie unwiderstehlich, konnten alles geben, und dann verpuffte ihre Energie so, wie eine Seifenblase zerplatzt. Wupp und weg. „Ansgar, geiler Stecher, hast es deiner Shari nicht gut besorgt? Versuchs noch mal!“ Sie sog die warme Luft ein, fühlte sich von Dunkelheit ummantelt. Die Lichter der Kirmes, warm, bunt und hell, zauberten ein Lächeln auf ihr Gesicht, das sie wie einen gefallenen Engel erscheinen ließ. Drehte sich herum, schaute dem dunkelhaarigen Mann auffordernd lächelnd in die Augen, drehte ihm den Rücken zu und beobachtete versonnen die durch den Looping jagenden Waggons des Thrillers. Die letzte Nacht der Cranger Kirmes brach an. Jacqueline konnte ein wenig Spaß gebrauchen.

 

 

Fortsetzung folgt.

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Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

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In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.