Bayernzelt

 

Unwillkürlich straffte sich Giancarlos Rücken. Er zögerte für einen Moment, als er hinter Jacqueline trat. Konnte sie sich sofort in dem großen Ehebett vorstellen. Aufgrund seiner strengen katholischen Erziehung hatte Giancarlo es bisher als Sünde betrachtet, sich dort überhaupt eine andere Frau vorzustellen als Loretta. „Carnevale in Venezia…“, wirbelte es durch sein Bewusstsein und versank in den dreieinhalb Pfund hoch spezialisierten, grauen Zellgewebes, tuschelte im elektrischen Gebrabbel von 100 Milliarden Neuronen, an den eine halbe Million Kilometer langen Nervenbahnen. „… hier ist auch nichts weiter als Carnevale. Es ist nicht längst alles ernst gemeint, was du siehst. Eine Lustbarkeit. Ein Spiel. Es hat sogar Regeln! Du bist genau wie alle hier.“ Und er sah ihre Gier, ihre Geilheit, sah sie getrieben von Vergnügungssucht, hinein in das kleine Vergessen.

Vor ihm die Frau im geblümten Sommerkleid. „Sie ist auch nicht anders…“, flüsterte die Stimme ihn ihm. „Vielleicht hat sie einen Liebhaber. Vielleicht will sie ihm einen Seitensprung heimzahlen. Nimm sie dir. Zeig ihr, dass du noch ein Mann bist!“ Sein Ich würde ätherisch. Sein Bewusstsein, sich in diesem Moment nicht selbst zum Objekt haben. Es war die Summe aller bewussten Wahrnehmungsprozesse. Giancarlo bosselte an einer originellen Eröffnung.

Nur wenige Zentimeter von einander entfernt und doch auf verschiedenen Seiten. Sie ließ ihm Zeit zum Nachdenken. Gemeinsam betrachteten sie die Einsamen, beobachteten die Getriebenen. Sahen der Balz zu: Eine Nummer zu eng. Das ist auf Crange Strategie. Und es funktioniert: Die Knöpfe springen im richtigen Moment auf. Verschlüsse werden entkorkt. Reißverschlüsse ratschend aufgezogen. Schweiß perlt auf dem Bauch. Sammelt sich im Nabel. Haut reibt sich an Haut. Widerstand erzeugt Wärme. Sie haben sich in ihrer Gewalt. Jeder den anderen. Das Stempelkissen der Lippen besiegelt den Schwur. Sie spüren muskulöse Oberschenkel, fühlen eine prickelnde Reizung zwischen ihren Schenkeln, welche sich sanft öffnen lassen. Die Augen glänzen, Haut ist von einem Schweißfilm überzogen, die Lippen sind feucht. Den ersten Stoß begleiten nasse Küsse. Sehnsüchtig atmen sie mit flatternden Nasenflügeln den begierlichen Geruch des anderen ein.

Jacqueline verfolgte mit ihren Augen den Weg, den die Wagen in den vier Loopings des Thrillers zurücklegten. Ihrem Blick wohnte die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem sie ihn schenkte. Die Aura ihrer Erscheinung zu erfahren war nur möglich, ihn mit dem Vermögen zu belehnen, den Blick aufzuschlagen. Giancarlo tippte ihr leicht auf das linke Schulterblatt. Als sie sich umdrehte, lächelte sie sanft.

»Darf ich Sie einladen?«

Sie drehte ihr Gesicht zum Thriller. Tat absichtlich abwesend.

»Eine Runde?«, fragte sie ihn, als sie sich ihm wieder zuwandte und anblinzelte. Giancarlo war ihrem Blick gefolgt.

»Nein, besser das nicht!«

Sie starrte wieder auf den Thriller.

»Oh, schade…« Es entstand eine lange Pause. Eine von den Pausen, die nicht peinlich waren. Sie ließen sich Zeit, ohne aufeinander zu lauern, ohne auf Fehler zu warten. Giancarlo hatte Zeit, ihr Gesicht zu mustern. Sie hatte Lachfältchen um die Augen. Ihre Haut war leicht gebräunt. Vielleicht kam sie geradewegs aus dem Urlaub zurück. Vielleicht aus dem Süden. Vielleicht aus Italien… der Wagen auf dem Thriller nahm Anlauf für den letzten Looping.

»Ich möchte auf keinen Fall ins Bayernzelt!«

Der Wagen schoss durch den Looping. Giancarlo hörte die Menschen ein letztes Mal mit Angstlust aufschreien. Sie stiegen aus. Dann wurde der Wagen über eine Weiche an den Start gebracht. Das Spiel mit den Irritationen von Angst und Lust konnte neu beginnen.

»Wie wäre es mit der, äh…«, Giancarlo suchte nach den richtigen Worten.

»Direkt gegenüber? Wo die Herren ihre Stellplätze zugewiesen bekommen, obwohl es natürlich alljährlich ein Losverfahren gibt?«, erkundigte sich Jacqueline spöttisch. Sie verwirrte ihn, machte ihn völlig wehrlos. Giancarlo nickte, obwohl er nicht verstand, was sie meinte. Im hintersten Hinterstübchen seines Kopfes hörte er eine Alarmglocke schrillen.

»Nur auf ein Bier?«, erkundigte sie sich mit erotischem Unterton, und ihre Stimme klang sanft, sehr sanft: »Jacqueline.«

Für einen Augenblick schien er nicht zu begreifen, dass sie sich vorstellte.

»Äh… wie bitte?«

Dann fing er sich und stellte sich seinerseits vor. Es war seltsam, dass sie einen Namen hatte. Vielleicht war es auch nicht ihr richtiger Name. Sie lächelte ihn an. Er gefiel ihr. Rührte sie an. Rührte etwas in ihr an. Verblichene Gefühle an ihren Vater, an seine Heiterkeit. Mit ihm war sie Riesenrad gefahren.

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

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In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.