Klemmenkaschiert, lässig und abgeklärt

 

»Ludwig, wir sind nicht beim BND«, gab Martin Tilkowski zu bedenken. »Du hast sie entwischen lassen…«, er hielt für einen Moment inne, »sie hat dich niedergeschlagen. Eine völlig Abgedrehte, wie du sagst…« Er ließ sich noch einmal die Worte seines alten Kollegen durch den Kopf gehen. „Die hat sozusagen noch eine Überraschung für uns parat“, hatte sein alter Kumpel prophezeit. Bronischewski war in sich zusammengesackt wie ein Boxer, der in den Seilen hängt, die Doppeldeckung sträflich vernachlässigt und auf den knock–out wartet. Zu keiner Erwiderung mehr fähig.

»Ludwig, die Menschen haben sich geändert. Sie schlagen eher, schneller, härter zu. Die Fußballfans halten uns total auf Trab…« Tilkowski schnappte nach Luft. Wollte seinem Freund nicht vor den Kopf stoßen und den Tatbestand bagatellisieren. Fühlte sich von seinem Anliegen überfordert. »Die verdammten Fußballfans sind unser Problem: Schalker, Dortmunder und dazu ausgerechnet jetzt noch das Spiel um den Westfalen–Pokal zwischen dem DSC und Westfalia Herne. Wie soll ich da einen Zeichner ordern?«

Bronischewski sah auf die Pinwand der Sonderstelle Crange. Las die Artikel über den Penner im Kanal und den Spielhallenbesitzer. Versuchte eine Verbindung herzustellen. „Solche Gewaltexzesse gibt es in allen Kulturen und Gesellschaften, ihr diagnostischer Symptomwert ist gering.“ Die erbarmungslose Hitze hatte an seinen Nerven gezerrt.

»Sie war absolut verhaltensunterkühlt.«

»Alles an ihnen ist eingefroren: Gefühle, Gesichtszüge, der Körper. Ihre Kinder kommen als Gefrierschränke zur Welt und scheißen Eiswürfel! Wird keine Klimakatastrophe geben, sagt mein Sohn. Dir macht keiner was vor, lass dich nicht ins Boxhorn jagen!« Für seine Verhältnisse war das schon eine Ansprache. Tilkowski sah seinen alten Kollegen an. Vielleicht tat ihm die Hitze nicht gut. Diese verdammten Uniformen waren nichts bei dieser Hitze. Er musste für sich und Ludwig Bronischewski eine akzeptable Lösung finden. »Ich glaube, Ludwig, du solltest für heute freimachen. Komm’sse für Gudrun auf’e Frühschicht!?!«

»Aber…«

Tilkowski fuhr herum, funkelte wütend mit den Augen und befahl scharf:

»Ich dulde kein Aber!« Und schon im nächsten Moment tat ihm sein Ton leid. Ludwig war ein guter Mann, kein Haudrauf, kein Harter, aber einer, der die Durchgeknallten beruhigen konnte, der die richtigen Worte für die Bekloppten fand, ohne den Behinderten vor den Kopf zu stoßen. Einer mit Herz. Aus einer Zeit, als Ideale noch gewollt wurden. Was war fatal daran, wenn einer an Recht und Gesetz glaubte, die Paragrafen des Grundgesetzes für Psalmen der Bibel hielt und Deutschland für eine Demokratie?

»Die Verrückten dieser Welt sterben nicht aus…«, murmelte er vor sich hin. Sah vor dem Fenster die Gierigen, Durchgeknallten und Tobsüchtigen vorbeiziehen. Betrachtete den Ausschuss aus den Randzonen der Städte, die Verlierer des Strukturwandels, die Zaungäste des Lebens. Hatte Bronischewski den Rücken zugedreht, um seine Fassung wieder zu gewinnen.

»Scheiß der Hund aufs Feuerzeug!«, hörte er ihn fluchen. Im nächsten Augenblick fiel die Tür krachend ins Schloss. Tilkowski stand mit verschränkten Armen am Fenster und blickte in den Hof. Dort standen zwei Einsatzwagen und ein Krankenwagen des DRK. Die Vordertür öffnete sich. Sein Freund Ludwig stob mit hochrotem Kopf an seinen jungen Kollegen vorbei, die ihm sichtlich irritiert hinterher sahen. Tilkowski war jetzt froh, dass er ihn zur Unterredung in einen der abgelegeneren Räume des zweiten Stocks gebeten hatte. Er sah ihm hinterher, wie er zwischen den Bäumen und der kleinen Mauer in der Menschenmenge auf der Dorstenerstraße entschwand. Hinter ihm quäkte sein Funkgerät.

»Was ist mit dem Kollegen los?«, hörte er die nasale Stimme des jungen Galonska.

»Kollege Bronischewski macht einen Rundgang über die Kirmes, um einer Angelegenheit auf den Grund zu gehen«, gab Tilkowski mit sachlicher Stimme zur Antwort. Der Kollege Galonska brauchte klare Handlungsmaximen.

»Bei der Hitze?«

Tilkowski blieb Galonska die Antwort für Sekunden schuldig. Dann sprach er schließlich ins Funkgerät und versuchte, seiner Stimme abermals einen festen Klang zu geben.

»Ja. Und Sie sollten auch einen Rundgang machen. Tilkowski Ende«, keifte er. Sollten sie doch Gift und Galle spucken, dass er sie nicht einweihte, sondern ihnen Bronischewski als leuchtendes Beispiel voran stellte. „Dirk Galonska ist nicht auf den Kopf gefallen…“, dachte Tilkowski, „er hat Ambitionen und will Karriere machen. Sie sind heute alle klemmenkaschiert, lässig und abgeklärt. Wie sie wohl reagieren werden, wenn es wirklich mal um etwas geht!?!“ Bei diesem Gedanken überlief ihn trotz der Hitze ein kalter Schauer.

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

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In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.