Jacqueline setzte vorsichtig einen Fuß nach dem anderen auf die Stufen. Checkte die Lage. Der Toilettenwagen war leer. Sie drehte den Wasserhahn an, ließ ihn so lange laufen, bis das Wasser einigermaßen kalt war. Spülte den Mund aus. Wischte sich mit einem Papierhandtuch den Schweiß von der Stirn. Rüttelte an den Türen. Die Klinken ließen sich hinunterdrücken. Sie hatte drei Türen zur Auswahl. Entschied sich für die, unter der ein Schatten durchfiel.
»Niemand da?«, erkundigte sie sich arglos. Jacqueline hatte die Kellnerin hier hinein verschwinden sehen. Sie überlegte, im Anschluss zum Nachtisch ein DAB mit einem Schuss Pampelmusensaft zu trinken. Es würde den Magen beruhigen, und es hatte Stil.
Jacqueline trat vor das Waschbecken. Zog die Knarre aus ihrer Tasche. Betrachtete versonnen die Walther PPK. Wog sie in der Hand, konnte nicht mehr lassen von diesem Instrument, das ihr Herrschaft über Leben und Tod zusicherte, und drehte ganz vorsichtig den Schalldämpfer auf den Lauf. Das Adrenalin überlagerte die Übelkeit, mit der sie gekämpft hatte. Sie federte ihren Stand sicher ab.
Elsa schloss die Riemchen an ihren Sandalen. Jacqueline zielte auf die geschlossene Tür. Holz splitterte mit leichtem Ploppen. Die Kellnerin beugte sich vornüber, riss die Tür auf. Panisch flirrten die Augen hin und her und blieben am Gesicht der jungen Frau haften.
»Das geschieht dir recht!«, höhnte Jacqueline. Sie hielt die Waffe waagerecht vom Körper weg, zielte, und mit einem leisen Plock ging das Geschoss los. Ein blutroter Fleck breitete sich auf der weißen Bluse aus und verteilte sich in den Stickereien der Brusttasche. Die Kellnerin fiel auf den Boden. Konvulsivisch mit den Armen zuckend. Jackie tanzte über sie hinweg. Legte auf den Hinterkopf an, beseitigte den Rest des Zweifels. „Erledigt!“, dachte sie befriedigt und drehte sich auf dem Absatz um, legte die Knarre zurück und drehte den kleinen Rucksack auf den Rücken. Prüfte das Make–up im Spiegel und vergaß nicht, einen Euro für die Putzfrau auf dem Teller zu hinterlegen.
Antizyklisches Verhalten. Als sie den Wagen verließ, folgte ihr niemand. Keiner kam ihr entgegen. Die Männer schlugen sich in die Büsche, um sich das Geld fürs Bier zu sparen. Auf dem Thriller schrien die Fahrgäste ihre Wut auf die Welt hinaus. Vereinzelt winkten sie sich in ergriffener Verzweiflung zu. In der Menge entdeckte sie den wartenden Giancarlo, der verträumt auf die Lichtlinien in der Nacht sah, als wären es Botschaften aus einer anderen Welt.
»Bring mich zum Cranger Tor«, bat ihn Jacqueline mit leiser Stimme. Die hämmernden Kopfschmerzen waren wieder da. Stärker als je zuvor. Ihr war, als würde jemand mit Fäustel und Meissel auf der Schädeldecke ein Schlagzeugsolo spielen. Eine Hitzewelle setzte ein Brandzeichen auf ihre Stirn. Der Inhalt ihres Magens drehte sich waschmaschinengleich.
Jacqueline hielt sich am Laternenpfahl fest. Wurde von Giancarlo gestützt. Stülpte den restlichen Mageninhalt nach außen. Er putzte ihr mit seinem Taschentuch den Mund ab. Warf den Lappen in den nächsten Papierkorb.
Giancarlo lehnte nachdenklich an einem Laternenpfahl. „Was ist hier zu tun?“, suchte er fieberhaft nach einer Lösung. Wollte ein Taxi rufen, doch die Fahrer gaben vor, sie wären im Einsatz.
»Soll‘ ich dich mit der Straßenbahn nach Hause bringen?«, bot er in Ermangelung anderer Möglichkeiten an.
»Nicht der elektrifizierte Lindwurm. Will laufen!«, torkelte sie, in sich selbst verrannt. Setzte unsicher einen Fuß vor den anderen. Es gefiel ihr, dass er die Situation nicht ausnutzte, sondern ernsthaft besorgt war. Mitgefühl war eine unbekannte Regung für sie.
»Komm!«, forderte er sie auf. Zog sie regelrecht durch die Menge. Scheiß doch auf die italienische Ehre. Behandle eine Hure wie eine Königin. Und eine Königin wie eine Hure. Seine Ehefrau mit dem Engelsgesicht hatte ihn in die Hölle gebracht. Nun ging es vielleicht in die umgekehrte Richtung.
»Brauch‘ ’ne Tüte, wenn ich mich ü…«, kamen Worte leise von ihren Lippen. Er musste näher an sie heranrücken, um zu verstehen. Sie stank nach Zigaretten und Erbrochenem. Giancarlos Wahrnehmung blieb im Einklang mit sich selbst, wobei sie sich in abstruse Widersprüche mit der Wirklichkeit verwickelte. Er zog sie entschlossen weiter. Sah eine Dame im blauen Kostüm vor einem Berber stehen. Sie ließ Münzen in seinen ausgefransten Hut fallen. Er hörte das Klingeln der Geldstücke deutlich durch den Lärm. Bedankte sich. Er besaß kaum mehr als das, was er am Leib hatte, eine Flasche lauwarmes Bier in der Notschlafstelle, schmutziges Geschirr, das er sich mit den Fliegen teilen musste. Die Implosion des Kommunismus, das allmähliche Versickern seiner Emanzipationsideale, die Auflösung herkömmlicher Schichten und Klassen im Zeichen von Individualisierung, Aktienstreuung und der multikulturelle Farbenreichtum hatte ihn gänzlich sprachlos gemacht. Als einzigen Luxus behielt er seine Bücher, eine gedankliche Brücke in die Vergangenheit.
»Der Bettler ist doch jedes Jahr auf der Kirmes!« Jacqueline schien ein untrügliches Gespür für seine Gedanken zu entwickeln.
Giancarlo kramte in der Tasche, gab ihr einen Wrigley’s, die blaue Ausgabe: „Wrigley’s Extra pflegt die Zähne und schmeckt. Kauen Sie ihn nach dem Essen, um den Speichelfluss anzuregen, der kariesverursachende Plaquesäuren verhindern kann. Nähere Informationen entnehmen Sie der Verpackungsbeilage oder erhalten sie von ihrem Apotheker. Dieses Medikament ist nicht rezeptpflichtig.“ Giancarlo lachte und strich sich zerfahren das Haar aus der Stirn.
»Ne Zahnbürste wär’s… und ’n Bad«, wünschte sie sich unter den dröhnenden Schlägen der Kopfschmerzen. „Ich nehme das Messer und schneide die Zahlen aus dem Fahrplan. Der Thriller kommt alle fünf Minuten. Aber eigentlich will ich laufen. Meine Schuhe sollen über den Asphalt klacken. Auf die Achterbahn. Aber mir ist zu kodderig, um in den Thriller einzusteigen. Er nimmt mich sanft am Arm und wir steigen ein, der Wagen setzt sich mit einem Ruck in Bewegung. Ich sehe mich um. Sehe keine Stadt, sondern nur das Bild einer Stadt, die Skyline von verloschenen Schloten, Gründerzeithäusern und Industriemoränen. Er ist der Schattenriss eines Mannes.“ So ausgeliefert, so hilflos hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. War froh, dass jemand für sie da war, dass sich jemand um sie kümmerte. Versuchte ein Lächeln. Sie brauchte keine erdfarbene Kleidung. An diesem Ort, auf diesem Platz, war ihre Tarnung besonders gut.
Fortsetzung folgt. *** Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001 In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.