Giancarlo dachte angestrengt über sie nach. „Ganz grün ist sie im Gesicht. Hat die Augen geschlossen. Ihr Gesicht ist zart und verschmälert sich von den feinen Jochbeinen zum Kinn. Der Mund sensibel geformt, die Lippen liegen locker übereinander…“ Ihm war ganz so, als rausche der schwarze Engel an seiner Schulter vorbei und berührte die Stirn mit seinem Flügel…
»Wir setzen uns am besten ins Café am Kanal. Dort bestellen wir Kaffee, der bringt Sie wieder auf die Beine!«, beschloss er mit dem letzten Rest seiner Ritterlichkeit. Ihr Gesicht war aschfahl geworden. Er fragte sich, ob er sie zu den Sanitätern bringen sollte. Lotste sie durch die Masse und war froh, den Mob hinter sich lassen zu können. Jacqueline sagte nichts. Sie trottete mechanisch hinterher. Giancarlo ging entgegenkommenden Menschen aus dem Weg, er nahm jedes Wort so ernst, als hinge die Welt davon ab: „Sie sieht genauso aus, wie die Frau aus einem meiner Träume. Diese forschenden, zügellosen, verführerischen und fordernden Augen… Sie hat etwas in ihrem Gesicht.“ Er schüttelte den Kopf. Wollte die Teilsysteme verstehen: das Hören, Sehen, Fühlen, Schmecken. Das Gedächtnis, das Raum– und Zeitgefühl, die Fähigkeit des Assoziierens, Bewertens und Erinnerns. Suchte nach einer Theorie vom Ganzen, die erklären könnte, wie alle diese Funktionen zusammenlaufen und wie er es fertig brachte, schlüssig zu denken und zu handeln. Sah die Stufen zum Sport-Palast hinauf. Der Animateur hatte das rötliche Haar aus der Stirn gegelt. Seine Stimme übertönte das Trompeten der Sirene, wenn der Thriller zu seiner Fahrt startete.
»Hatte die Doppeldeckung wieder hochgezogen…«, rief der Kanariengelbe begeistert ins Mikrofon. »wie schon viele Male vorher…«, machte eine Kunstpause, um sich der Aufmerksamkeit aller sicher zu sein. »… er fixierte mich. Ein Fragezeichen lag in seinem Blick. Hatte den Sandsack für ihn gespielt. In den Seilen gehangen. Kurze Schläge auf die Rippen. Runde um Runde. Wartete. Wartete, bis er sich leergeschlagen hatte. „Das war’s schon, mehr haste nich‘ zu bieten?“, hatte ich ihn in der 7. Runde gefragt. Hat mich unsäglich blöd angesehen, für’n kurzen Moment die Deckung runtergezogen. Der Moment, auf den ich gewartet hatte. Dat war der Niedergang eines unschlagbaren Champs!«
Die Menschen grölten. Applaudierten. Wurden auf diese Art und Weise Helden gemacht, oder erfanden die Helden sich nicht selbst? Es kann nicht sein: Klassische Boxer–Geschichten haben kein Happy–End! Nach dem Rücktritt wissen Boxer nichts mehr mit ihrem Leben anzufangen. Die Leere füllt bei den meisten der Alkohol, nur wenige werden zu Moderatoren oder Trainern ausgebildet. Den einzigen Daseinszweck der Helden für einen Tag erschöpft sich in der Hassliebe zur Ehefrau. Könige sind sie nie geworden, das Schloss bekommen sie nur zu sehen. Nur in der Legende gibt es ein Weiterleben, dafür muss man sterben. Möglichst jung.
Grüne Schnipsel lagen als Teppich vor der Losbude auf dem Boden. Er konnte sich mit Jacqueline für einen Moment im Spiegel sehen. Sie machten einen komischen Eindruck. Zwei Betrunkene, die einen Tango torkelten und nicht fielen, nicht fallen konnten, weil sie von anderen Betrunkenen aufgefangen wurden. Seine Sekretärin bewunderte eine Eigenart an ihm. Er war es gewohnt, in schwierigen Lagen einen klaren und kühlen Kopf zu bewahren. „Mit dieser Frau bin ich nicht unbedingt eine schwierige Lage geraten…“, redete er sich in einem Flash ein. Er irrte wie jeder Trinker, der glaubte, Alkohol im Griff zu haben. „Lassen sich hier meine Grenzen der Erkenntnis noch einmal einreißen? Lässt sich das nun mit der Kraft meines Denkens bewerkstelligen, auch wenn es sich selbst dabei zuschauen muss? Schleppe ich sie hinter mir her oder werde ich von ihr gestuppst?“
Fortsetzung folgt.
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Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001
In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.