Armer Ritter

 

Verschnaufpause. In Zeitlupe ließen sich Giancarlo und Jacqueline auf die blauen Plastikstühle im Biergarten Zum armen Ritter niedersinken. Sie sah auf den Kanal. Das Wasser spiegelte die Lichter der Kirmes wieder. Verzerrt und doch zauberhaft. Er fragte sich, ob er sie schön trinken oder sich völlig zulöten sollte. Fürchtete sich vor ihrem Blick. Schloss die Lider.

»Bin hungrig…«, brachte sie heraus. In ihrem Schädel hämmerte es, der Magen rumorte. Sie stützte ihren Kopf auf. Presste ihre Handballen an den Schopf. Massierte die Schläfen. Konnte nurmehr halbwegs geradeaus denken.

Giancarlo suchte nach einem Kellner. Fand die Bedienung nicht, sah Jacqueline an. Schreckte zurück: „Eine Made fällt ihr aus der Nase. Kann nicht sein….“, versuchte einen Systemzustand zu definieren, der eine schlüssige Beschreibung für den kognitiven Inhalt seines Bewusstseins sein könnte. Ein oszillierendes Ensemble, das hochsynchron schwingen konnte, um sein Alphabet dieser dynamischen Zustände und ihrer Übergänge zu entschlüsseln. Mit einem kurzen Stechen hinter der Stirn wurde ihm schwindelig. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, wegzugehen. Seine gute Erziehung spielte ihm einen Streich, er hatte Verantwortung übernommen. Seine Hände zitterten ein wenig.

»Bin sehr hungrig!«, erbat Jacqueline mit leiser Stimme seine Hilfe. Sie fühlte sich ausgelutscht, leer, und hatte Appetit. Legte den Kopf leicht schräg. Vielleicht waren andere Spielarten mit ihm möglich. Ihr Interesse war geweckt. Sie fand ihn in seiner Unschuld verlockend und war bereit, sich seinem Charme anzuvertrauen.

»Ich hol‘ Ihnen das Hausgericht: Armer Ritter. Eier mit Brot und Speck, gleicht den Salzverlust aus«, schlug er vor. Stützte sich mit den Fingerspitzen vom Tisch ab, wartete auf eine Antwort und sah über sie hinweg. Buchen und Eichen säumten den Rand des Kanals, drängten sich an der Grenze seines Blickfelds gegen den Himmel. Weiter rechts lag die Schleuse, die sich vor dem Himmel abzeichnete. Nachdem er vergeblich auf ihr Zustimmen gewartet hatte, sah er zu ihr hinab. Sie massierte ihre Schläfen, er deutete die Kopfbewegung als Zustimmung und ging mit festem Schritt auf die Theke zu.

Jacqueline atmete durch, versuchte, sich mit den kreisenden Bewegungen ihrer Fingerspitzen an der Stirn zu entspannen. Sie beruhigten die Häuser auf Crange, mit den immer gleich bleibenden Fenstern. Den Wechsel der Jahreszeiten erkannte man hier daran, dass die Blumen in den Fenstern und in den Vorgärten ausgetauscht wurden. Im Frühjahr: Narzissen in Gelb, Tulpen in Orange. Im Sommer: Rosen und Margeriten, im Herbst: Astern und im Winter: Eisblumen und Heidekraut. „Wieso hat er mir so prüfend, so nachdenklich ins Gesicht geschaut? Mir direkt in die Augen gesehen und gelächel? Menschen reden, wenn sie Angst haben, oder sie denken sich tot.“ Sie nahm einen Schluck Wasser, lutschte den Eiswürfel und ließ ihn auf der Zunge schmelzen. Die seit Tagen hämmernde Migräne pochte in ihrem Schädel ein Schlagzeugsolo mit nicht nachlassender Heftigkeit. Sie durchsuchte ihre Tasche nach einer Pille. Fand eine angebrochene Packung. Nahm eine Tablette ein, spülte mit Wasser nach. Hustete. Schnappte nach frischer Luft. Sah in den Taschenspiegel. Zog sich mit dem Lidschatten von Shiseido die Augendeckel nach.

»Essen Sie, so lange es warm ist, es wird Ihnen gut tun!«, riet er ihr mitfühlend, als er ihr eine große Portion des überbackenen Brotes mit Spiegelei auf den Tisch stellte. Sie war gerührt, fürsorgliche Männer passten überhaupt nicht in ihr Raster. Vorsichtig führte sie den ersten Happen zum Mund. Der Schlund ließ die warme Mahlzeit sacken. Der Magen meldete sein Einverständnis. Sie aß mit Genuss. Und beobachtete ihn über den Rand des Tellers.

„Bettelt er um Bestrafung?“, wunderte sie sich, als er ihr noch einen Teller brachte, mit dem sie den erwachten Appetit befriedigen konnte. Bei jedem Bissen stellte sie sich vor, dass es ein Stück Fleisch von ihrem Begleiter sein könnte. Sogar eine saure Gurke besorgte er für sie als Nachtisch. Sie lächelte ihn an. „Männer sind in ihrer Hilflosigkeit unglaublich rührend…“ Es schien ihr, als eigne sie sich die Kraft ihres Opfers an. Nun konnte sie saufen ohne Ende und wurde dabei immer klarer.

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

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In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.

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