Tanzende Derwische

 

Kawumm. Am Autoscooter krachten die Wagen rhythmisch aufeinander. Die hämmernde Musik wurde bis zum Anschlag aufgezogen. Ein strunziger Dee Jay hatte sich erdreistet, Maschine Gun zu covern. Lauter Einzelteile und kein Ganzes mehr. Das Licht flackerte im Takt. 177 Beats pro Minute. Die Füße kamen dem Takt nicht nach. Bässe landeten in der Magengrube. Künstlicher Nebel wurde über die Fläche gepustet. Die Menschenmassen auf der Kirmes schoben sich unbeirrt dem Budenzauber entgegen. Tänzelten leichtfüssig durch die Gassen. Drehten sich unentwegt im Kreis. Platzten fast vor Fröhlichkeit. Feierten, als wäre diese Kirmes das letzte Mal im Ruhrpott. Fieberten dem großen Feuerwerk unruhig entgegen. Ein Bettler zog an den tanzenden Derwischen vorbei.

»Der Alte sieht mich an.« Shari hielt die Augen geschlossen, verdeckte die Höhlen mit den Handflächen. Als kleines Kind war es ihr gelungen, sich auf diese Weise unsichtbar zu machen.

»Hat keine Augen mehr. Voll die Peilung verloren.«

»Scheuvertiert. Seine Augenhöhlen hinter ’ner dunklen Sonnenbrille zu verstecken.«

»Sieht irre komisch aus…« Das Lachen blieb ihm im Hals stecken. „Wie ich auf dem Friedhof. Der Bulle tippt mir auf die Schulter und…“

»Seine Nasenflügel beben!« Shari zog die Hände fort und klappte langsam die Lider hoch.

»Zoom… total spontan…«

»Ich kenne ihn, und er erkennt mich. Am Geruch.« Shari knallte immer mehr durch. Ansgar ließ sich auf ihre Wortklaubereien ein und übertrieb. Er übertrieb wie meist, in der Hoffnung wieder völlig auf Null zu kommen. Leer zu werden, um wieder für voll genommen zu werden.

»Voll der Checker.«

»Seine zittrigen Hände fahren den Blindenstock ‚rauf und runter.«

»Nervös, der Spanner!« Der Blinde war schon längst vorüber. Hatte sich in der Menge verloren. Suchte nach einem Geruch, einem Geräusch, seinem Ausgangspunkt.

»Is’n Ohryeur!« Während er versuchte, Eindrücke zu verarbeiten, wurde Shari knatschig:

»Will Jacqueline wiedersehen! Sie ist meine Freundin.«

Wollte er sie warnen? Der Bettler schwankte durch die Budengassen. Als Shari sich zu ihm umdrehte, schrie er. Ansgar konnte nicht verstehen, was. Er starrte verwundert auf die Kokosnussviertel, die unter der Dusche lagen. Im nächsten Augenblick packte ihn eine derbe Hand von hinten an den Schultern.

»Was’n das’n!?!«, war das einzige, was er hervorbringen konnte. Er sah in das verschwitzte Gesicht eines Polizisten.

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

Weiterführend →

In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.