Vorspiel zur Selbstauslöschung

 

Karnickelfangschlag. Jacqueline konnte seine Angst riechen, bevor sich der Schweiß zeigte. Seine Furcht wuchs ins Unerträgliche. Sie musste lediglich abwarten und ihn behutsam zur Grenze des Wahnsinns geleiten. Er würde ihr als reife Frucht in den Schoss fallen. Würde es gern tun. Würde ihr ganz zu Willen sein. Sie ließ sich ein weiteres Bier bringen. Schenkte ihm als Belohnung ein zauberhaftes Lächeln. Kramte in ihrer Tasche und holte eine Spange hervor. Steckte ihr Haar damit zusammen. Blickte dabei abwesend auf den Kanal. Gab ihm Zeit, sie zu betrachten. Achtete darauf, dass die Denkerstirn eine guten Einblick in ihr Dekolleté bekam.

Giancarlo betrachtete nachdenklich ihr Profil, die freigelegten Ohren mit den angewachsenen Ohrläppchen. Wand sich in Vorwürfen: „Hab‘ es noch nie vertragen, durcheinander zu trinken. Und jetzt Maden… würde gerne woanders hinsehen. Es ist etwas tief dämonisches um diese Frau. Ich darf sie vielleicht nicht mit meiner bürgerlich–humanistischen Sensibilität aus dem 19. Jahrhundert messen. Es müssen Maßstäbe her, die im Lauf des 20. Jahrhundert gewonnen worden sind. Diese Grausamkeit ist nicht mehr zu leugnen. Mir ist diese Erbarmungslosigkeit entsetzlich, aber sie gehört zutiefst zur Signatur dieser Zeit, elementare Kräfte kommen darin zum Ausdruck. Man muss das klar sehen. Muss logisch denken. Klar im Kopf werden. Nichts weiter, Mann, du kannst dich wieder abregen. Sie ist nicht mein schwarzer Engel. Wird meine Stirn nicht mit den Flügeln berühren. Wieso habe ich sie nicht gezählt? Aber die Maden habe ich gezählt. Alles easy, Mann.“

Sie hatte Nachschub organisiert. Stellte die Gläser auf dem Tisch ab. Er leckte das Salz auf seinem Handrücken ab. Kippte den mexikanischen Schnaps in den Schlund. Lutschte eine Zitrone. Versuchte, nach dem frühen Absynth auf diese Weise den Kopf freizubekommen oder sich zu viel Sprengstoff einzuverleiben. Auf die Idee, sich einfach den Finger in den Hals zu stecken, kam er nicht. „Carnevale in Venezia…“, hechelte die Stimme in ihm, „wenn jetzt jemand ein Foto von uns machen würde. Wir würden darauf ein hübsches Paar abgeben.“

»Auf einem Bein steht man schlecht, nimm noch einen!«, forderte ihn Jacqueline auf. Er griff zu, stürzte den scharfen Schnaps durch die Kehle. Sie registrierte, wie seine Knöchel weiß wurden. Giancarlo hatte seine Augen tollkirschenweit aufgerissen. Einer der Gesichtsausdrücke, die man nicht bewusst steuern kann. Jacqueline beugte sich zu ihm hinüber und küsste ihn sacht, ganz behutsam, ja schon fast zärtlich auf den Mund. Er stöhnte leise auf.

Vorspiel zur Selbstauslöschung. Sie strich ihm mit dem Daumen über die Lippen. „Er hat Angst und ist total scharf…“, überlegte Jacqueline, „interessante Kombination. Wird Spaß machen.“ Sie zog ihn zu sich herüber, forschte mit ihrer Zunge seine Mundhöhle aus und küsste ihn fordernder. Zog seine Zunge ein. Biss auf den Zipfel. Biss ihm die Lippen blutig. Was sich Menschen im Namen der Liebe antun, ist selten harmlos. Giancarlo blieb starr vor Übelkeit.

 

 

Fortsetzung folgt.

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Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

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In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.