Jeder nannte sie Mae, kaum jemand hatte die Folie für diesen Spitznamen je auf der Leinwand gesehen, niemand hatte den bösten Satz des ersten platinblonden Sexsymbols der amerikanischen Traumfabrik aus den 1930–er Jahren im Original gehört: „Is it a gun in your pocket or are you glad to see me?“ Eine Knarre hätte sie in diesem Moment lieber gehabt, um sich aus dem Amok der Gedanken ins Koma zu befördern. Sie saß zusammengesunken in ihrem Wohnwagen und trauerte um ihren Hund. Ihr bürgerlicher Name lautete Karla Ahlheit, geborene Bettstätter. Josi war ein treues Tier gewesen. Mae erinnerte sich an den Tag, als ihr verstorbener Mann Josef ihr diesen kleinen Josi schenkte. Nicht der erste Josi, den ihr Mann im Laufe von dreißig Ehejahren geschenkt hatte. Sie konnten keine Kinder zeugen. Die Samenleiter von Josef waren für zeugungsfähige Spermen undurchlässig. Die Möglichkeit, dieses Problem mikro–operativ zu ändern, gab es noch nicht. Mae weinte sich die Augen aus den Höhlen, als der Arzt ihnen die Nachricht überbrachte:
»Bei Ihrer Frau ist alles in bester Ordnung. Sie ist eine gesunde Frau im gebärfähigen Alter.«
Josef hielt den Kopf gesenkt. Mae trocknete die Tränen mit dem Stofftaschentuch ihres Mannes. Der Assistenzarzt, ein junger fortschrittlicher Spund, unterrichtete Mae:
»Unter den gegebenen Umständen könnten Sie die Scheidung ein…« Weiter kam er nicht. Mae versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Der Abdruck jedes Fingers war auf der Wange eingebrannt, der Ringfinger hinterließ eine blaue Stelle… Sie ließ die verdutzt dreinblickende Hilfskraft im sterilen Arbeitszimmer stehen und zog mit ihrem Mann Josef zurück zum Oktoberfest, um mit ihm die anstehende Schicht zu bewältigen.
»Alles im Plan…«, sagte sie zu Josef, den sie unlösbar und aufrichtig mit dem Bewusstsein liebte, dass Liebe eine große Verantwortung für den Anderen beinhaltet. Sie wusste, sie musste ihn anlügen, um ihn zu halten, und sie wusste, dass er es wert war. »Diese Quacksalber haben die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen.«
Josef nickte nur stumm, sagte den Tag über kein Wort mehr, arbeitete bis zur Verausgabung, soff sich in der Nacht bis zur Bewusstlosigkeit zu. Und das mit bayerischem Weißbier!
Wunder und Wunden des Kirmeslebens. Ein Jahr nach dieser Nachricht brachte er ihr den ersten kleinen Josi mit.
»Ich liebe dich… über alles!«, sagte sie unter Tränen zu Josef, nahm den Hund auf den Arm, der flüchtete vor den Tropfen, die auf ihn hinab fielen, und sprang auf den Boden.
»Ich dich auch!«, antwortete Josef leise und lachte, als der kleine Josi seinen großen Zeh fressen wollte. Erleichtert sah Mae, dass bei diesem Lachen zum ersten Mal Josefs Augen mitlachten. Den ganzen Tag wich ihr der Hund nicht von den Beinen. Abends legte der kleine Josi sich ans Bettende und blickte sie mit seinen braunen Augen an. Mae kraulte ihm das Fell.
Knapp ein halbes Jahrhundert später leitete ihr Neffe Oswald die Fahrgeschäfte, die sich mittlerweile zu einem großen Unternehmen ausgewachsen hatten. Im kommenden Jahr würde die Familie ein seltenes Jubiläum feiern können. Seit 150 Jahren bereitete ihre Verwandtschaft dem Publikum auf Volksfesten mit Fahrgeschäften und gastronomischen Betrieben Vergnügen. Ihr Urgroßvater war mit einem Pferde–Karussell übers Land gezogen. Onkel Otto begründete im Jahr 1895 die auf der Cranger Kirmes bestehende Riesenrad–Tradition der Familie. Die Zeit der Verdampfermaschinen und Karbidlampen war vorbei, High–Tech–Fahrgeschäfte verschlangen enorme Investitionssummen, und die mussten sich rechnen. Ihr Mann Josef war vor drei Jahren gestorben und Josi das einzige an Wärme, was er ihr hinterlassen hatte. Ihr Neffe wollte die Polizei rufen, als sie den getöteten Josi fand, aber Mae setzte ihren Kopf durch und beerdigte den Hund. Sie wollte nicht, dass ihr Josi in eine Abdeckerei gebracht wurde.
In diesem Moment kehrte nach den Tagen der Trauer das Leben in Mae zurück. Wer hatte ihren Hund umgebracht? „Josi ist… war ein gutes Tier.“ Ächzend erhob sie sich und trat aus dem Wohnwagen heraus. Maes erster Impuls war, die Tür wieder zu schließen, um den Sog der Geräusche und der zuckenden Lichter zu unterbrechen. Als sie sich an die Kulisse gewöhnt hatte und nicht mehr orientierungslos dastand, sah sie am gegenüberliegenden Autoscooter einen Polizisten, der zwei Jugendliche festzunehmen schien. Sie ging hinüber.
Fortsetzung folgt.
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Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001
In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.