Die Eingebung stellte sich selbst–verständlich bei ihr ein, nachdem Reiner Kauss zu seiner Familie gegangen war. Jacqueline war völlig irritiert, ein neues Gefühl strömte auf sie ein, sie empfand ein Mit–Leiden: „Ich muss ihn abschütteln“. Sie dachte darüber nach, wie sie ihn verlassen könnte, ohne ihn zu kränken.
»Is wat?«, verfiel Giancarlo in Slang und bekam keine Antwort. Sie sah etwas Farbiges aufleuchten und schmiegte sich eng in ihren Stuhl. Er hatte sein Essen lustlos zur Seite geschoben. Kippte mit grimmiger Entschlossenheit einen weiteren Schnaps nach.
„So, wie er seine Lippen zu einem brutalen Lächeln formt. Seine Hände auf die Oberschenkel legt, wie sich sein Geschlecht in der engen Hose abmalt. Wie nach einer anstrengenden Arbeit, die ihm Genugtuung verschafft hat“, schoss es Jacqueline durch den Kopf. Sie fühlte sich durch ihn magisch inspiriert. „Hinter einem dreckigen Backsteinhaus sehe ich einen Kaninchenverschlag. Draußen steht jemand. Er hängt ein Kaninchen in eine Drahtschlinge. Es zappelt und schlägt mit den Hinterläufen aus. Er zieht an der Drahtschlinge. Bricht dem Kaninchen das Genick. Es ist nicht sofort tot. Die Augen des Kaninchens rollen noch. Er schlägt mit einem Knüppel zu. Die Schädelplatte bricht. Blut und Gehirn treten heraus. Er nimmt es aus der Drahtschlinge und zieht ihm das Fell über die Ohren. Lacht. Als er mir den Kadaver zuwirft, erkenne ich, dass er keine Zähne hat, sondern rostige Stahlnägel.“
Ihre Sinne liefen auf Hochtouren. Etwas war geweckt worden, dass nach langem Schlaf wieder zum Vorschein kam. „Achtung!“, vermeinte sie Jay, den englischen Soldaten, zu hören. Kein unnötiges Risiko eingehen. Alles im Blick behalten. „Stay cool, baby!“
Sie ließ sich ein Glas Stilles Wasser bringen. „Kaltes, klares Wasser / über meine Beine / über meine Arme / über mein Gesicht…“ glaubte sie den Popstar Bettina Köster zu hören. Schluckte eine weitere Tablette. Massierte sich die Schläfen. Blickte auf den Kanal. Mit dem sanften Wellengang beruhigten sich ihre Gedanken.
Aufgeklärter lichter Wahn als Meisterleistung des Verstandes. Giancarlo war hypnotisiert, beobachtete jede ihrer Bewegungen. War betäubt von ihrer körperlichen Präsenz, angezogen von ihrem Geruch, fasziniert von ihrer lasziven Geschmeidigkeit. „Sie legt den Lippenstift zurück in die Tasche zu dem schmatzenden Wurm. Das Parfum stinkt. Pesthauch der Verwesung. Will es nicht riechen. Will das nicht sehen. Will nichts mehr hören. Will nichts mehr spüren.“ Er hielt sich die Ohren zu, schloss die Augen, legte die Stirn auf den Tisch. Wiegte den Kopf hin und her. Alles drehte sich. Das Blut rauschte. Am liebsten wäre er an diesem Tisch eingeschlafen. Schlafen, träumen und am Morgen aufwachen. Aufwachen mit einem Federstrich auf der Stirn. „Mit der Erinnerung an den schwarzen Engel aus meinem Traum. Alles ist nur ein Traum…“
Ein paar Tische weiter flüsterten die Kinder über das Paar, das ihnen merkwürdig erschien.
»Mama, wieso hat die Frau eine Lederjacke an?«, erkundigte sich Patricia bei ihrer Mutter.
»Friert wohl«, gab Petra zur Antwort. Sie beobachtete ihren Mann Reiner, der genüsslich ein Bier trank. Schaute zu dem Paar verstohlen herüber. Auf der Cranger Kirmes bildeten sich eben Pärchen zu einem flüchtigen Augenblick der Lust. Eine Begegnung, kurz und heftig wie die Fahrt auf dem Thriller.
»Wenn ihr wollt, könnt ihr zur Wildwasserbahn rüber. Was haltet ihr davon?«
Patricia, Saskia und Robin waren nicht mehr zu halten. Sie stürmten aus dem Armen Ritter.
Fortsetzung folgt.
***
Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001
In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.