Anbaggertypen

 

Kurz vor dem Feuerwerk legte die Kirmes ihre Schminke ab. Die Fröhlichkeit in den Biergärten wurde porös und hohl. Anbaggertypen starteten voll durch, um eine Biernutte für diese Nacht mit nach Hause nehmen zu können. Der Zauber der alteingesessenen Kirmes ähnelte herkömmlicher Gaukelei. Augenblicklich traten die wahren Gefühle unter dem schreiend kitschigen Mantel der Dekoration hervor. Das aknezerfressene Gesicht des Mondes schien zufrieden auf das endlose Treiben der Menschen in ihren Vergnügungsparks herunter zu sehen.

Die Alten wollten die Vergangenheit abschütteln und die Jugend wollte Gegenwart. Shari und Ansgar mussten am Treibstoff der New Economy schnüffeln, damit die kleinen grauen Zellen auf Hochtouren laufen konnten. Ansgar holte den Rest Koks aus dem Erddepot und spendierte Shari eine Linie. Tilkowski war ihrer müde geworden, hatte die Personalien festgehalten und sie rausgeschmissen. Viel war ihnen nicht nachzuweisen. Ansgar steuerte mit Shari zu einem Nachtessen an einen Stand.

»Wenn wir bis zum Feuerwerk durchhalten wollen, müssen wir ’ne Grundlage haben.«

»Mag‘ kein Pferdegulasch«, nörgelte Shari. Sie war von der Vernehmung so runter, dass es ihr schwer fiel, wieder draufzukommen. Das Koks machte nicht hungrig, sondern geil.

»Geb‘ dir mein Brot, kann’sse tunken!« Ansgar hielt ihr ein Schälchen hin. Als Anreiz hatte er ihr eine Pille draufgezaubert.

»Ich scheiß‘ auf das labbrige Brot.«

»Wart‘ damit bis nach dem Essen. Leg ’ne viertel E nach, dann sieht die Welt besser aus.«

»Die Welt sieht aus, wie sie ist und hier im Herzen von Nielsen zwo…«

»Sag mal: Was laberst du da für einen Streifen ab?«, erregte sich Ansgar. Sie hatte die Pille nicht bemerkt. Oder einfach übersehen. Absichtlich oder unabsichtlich, wer wusste das beim New Froilen Wonderbra noch genau. Er nahm sie vom Brot herunter, legte sie auf seine Zungenspitze und streckte sie ihr entgegen. Sie kam auf ihn zu, verschluckte das Extasy, zog die Zunge in ihren Rachen.

»Nie sollst du mich befragen…«, hauchte sie. Sie pumpten sich auf mit Hoffnung. Er nickte, wandte sich wieder dem Essen zu. Shari streunte um den Pferdefleischstand wie eine Katze. Sie sagte etwas, was er nicht verstehen konnte.

»Hab‘ dich was gefragt!«

»Hmmm…«, versuchte sich Ansgar mit einem verächtlichen Knurren zu verständigen. Er war so verflucht ernst, wie es nur zornige junge Männer sein können, und kaute an seinem Pferdegulasch. »… bist du sicher, dass du mich meinst?«, erkundigte er sich nach dem Schlucken und dachte an ihre Worte über Jacqueline: „Turbo geil. Rattenscharf.“ Warf sich eine weitere Pille wie ein Hustenbonbon ein. Fand sich im selbstzerstörerischen Protest gegen eine Gesellschaft, die noch erbarmungsloser war als die Natur. Ansgar rülpste, legte das Besteck beiseite und ratschte eine Dose Bier auf. Setzte an um die DOM mit der aufkeimenden Bitternis herunter zu spülen. Er war mörderisch eifersüchtig.

»Sag‘ deinen Satz!«

Ansgar schluckte die Dose ex weg, wischte ein Rinnsal aus den Mundwinkeln. „Freundlich ist die Nacht mit all ihren Gesichtern, mit all ihren Stimmen“, schoss es ihm durch den Kopf. Was würde sie jetzt zu ihm sagen? Ihm fiel der Satz seines Freundes Ulrich ein: „Wenn du sie liebst, mit all dem Schmalz und den Sentimentalitäten, dann können sie dich an den Eiern aufhängen.“ Er nahm sich vor, das mal ausprobieren.

»Gibt‘s auch was anderes zu picken?«

Ansgar drückte die leere Dose zusammen. Zielte. Traf den Mülleimer, in dem das Weißblech ausschepperte. Er war wieder obenauf.

»Currywurst… yeah… zum Nachtisch Currywurst vom Hotte–Mäxchen!«, antwortete Ansgar verdecktkomplexisch.

»Also: Curry, E & Jägermeister!«

»Voll die Dröhnung!«

Ansgar erschien die Szene als Fußballspiel unter Flutlicht im Fernsehen auf Großleinwand. Man sah die Fans, fieberte für seine Mannschaft, doch man war von den emotionalen Wogen, die im Stadion die Zuschauer betrafen, ausgeschlossen. Er wollte mit ihr ins offene… In dieser Ecke war es für die sonstigen Geräuschverhältnisse auf der Kirmes still. Totenstill.

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

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In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.