Sie bewegte sich langsam, fast schwebend. War den Weg zur Schleuse hinaufgeschlendert, vorbei an den letzten Buden, dem Feuerwehrwagen. Vereinzelte Paare und Passanten schlurften gleichgültig an ihr vorüber. Der Kanal lag glitzernd vor ihnen, erinnerte an flüssiges Blei. Die Geräusche der Kirmes brandeten von Ferne an ihre Ohrmuschel. Jacqueline verkörperte den Horror einer unauffälligen Präsenz so eindringlich, dass dem jungen Greifer zuerst die Leerstelle aufgefallen war.
Reflex auf Reflexion. Dirk Galonska hatte sie erkannt. Er feixte und sah seine Chance, Ludwig Bronischewski endlich den Rang abzulaufen. Sie war nichts für seinen Geschmack. Aus Angst, dass sie umkehren und in der Menge verschwinden könnte. Schloss er sich ihr an. Beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Versuchte, sich auf ihr Tempo einzustellen. Ihr Schatten zu werden. Betätigte das Sprechfunkgerät. Versuchte, das Knacken des Lautsprechers mit einer wegwischenden Handbewegung zum Verstummen zu bringen. Sein Chef meldete sich.
Jacqueline nahm von dem Greifer kaum Notiz, das gehörte zu ihrem Spiel. Erhöhte das Schritttempo, ließ die Falle unvermutet zuschnappen. Stellte Galonska an einer unmöglich scheinenden Stelle. Schlug sich vom entgegenkommenden Hundehalter seitwärts durch die Büsche und grinste, als der Bulle ihr schlicht folgte und sich kaum die Mühe gab, seine Beschattung zu tarnen. Verfolgt zu werden faszinierte sie. Gehetzt zu werden von jemandem, der eine Herausforderung darstellt, gejagt zu werden von einem Frischling, was für eine irrwitzige Komödie, da es doch sonst umgekehrt war. Sie hielt sich für die Beste ihrer Zunft. Niemand durfte das bezweifeln. Die, die es nicht begriffen hatten, hatten bezahlt. „Ob Giancarlo mir auch folgt? Etwa noch ein flotter Dreier!?!“
Sie hatte schon zu viele Tote erlebt, um sich vor dem eigenen Tod zu fürchten. Dieser Polyp glaubte an die Gerechtigkeit, vielleicht hatte er auch einen ausgeprägten Teil in sich, der helfen wollte. Das konnte man gegen ihn einsetzen. Sie war fast aufgekratzt, fühlte sich so lebendig wie schon lange nicht mehr. Zwei Tanzschritte. Sie ließ sich wie ein Messer zusammenklappen und stolperte theatralisch über die Sträucher. Wie erwartet stürmte der Greifer auf sie zu. Sie hielt die Augen geschlossen, und leises Stöhnen kam über ihre Lippen.
»Hey, was ist los?« Galonska beugte sich über sie, schüttelte die Frau an den Schultern. Das Kleid war bis zum Schritt hochgerutscht und gab den Blick auf rote Spitzenunterwäsche frei.
»Verdammte Scheiße!«, grunzte er. Starrte in die Mündungslauf einer Waffe mit Schalldämpfer, versuchte krampfhaft die Seriennummer zu erkennen, um sich vom Unausweichlichen abzulenken.
»Nicht gelernt, sich Damen gegenüber anständig auszudrücken?«, erkundigte sich Jacqueline verachtend, wartete nicht auf Antwort. Drückte ab. Drehte sich flink zur Seite, damit er nicht über ihr zusammensacken konnte. Ließ den Sterbenden zur Seite rollen, nahm das Funkgerät, hörte eine vertraute Männerstimme, wollte es in hohem Bogen von sich werfen… Überlegte es sich anders. Legte es beiseite. Sah dem Todgeweihten in die Augen.
Beim Blick auf Schloss Crange hatte Jacqueline das Gefühl, er könne ihre Gedanken lesen. „Du wirst von groben Männerhänden in weißes Leintuch gepackt. Traumlos schlafend in einem schweren Eichensarg liegen.“ Sie lächelte ihn an und zwinkerte ihm geheimnisvoll zu. Schloss Crange war ein Ort mit realer Geschichte, mit Eleganz, Schönheit und Terror. Unzählige Menschen wurden dort hingerichtet, geschlachtet, verbrannt. Andersdenkende, Ketzer. Europa war eine brutale Welt. Aber aus dieser Qual, aus dieser Brutalität kommen Mozart oder Shakespeare. Grausamkeit ist Teil der menschlichen Natur. Sie ist nicht zu trennen von den größten Dingen, die wir als Menschen erreicht haben.
»Stirb endlich!«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Drapierte den Toten so in den Büschen, dass die Blätter des Rhodhodendron ihn vor den Blicken der anderen Kirmesbesucher schützten. Griff nach dem Sprechfunkgerät, stellte es aus, packte es in ihren Rucksack.
Fortsetzung folgt.
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Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001
In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.