Magische Öffnung des Blicks. Giancarlo sah den Weg zur Schleuse mit der Gleichmütigkeit eines Melancholikers hinauf, der die Ziellosigkeit zum Lebenssinn erklärt hat. Hielt ihm der schwarze Engel ein flammendes Schwert entgegen?
Die Schwarze Witwe und der Fallsüchtige, kommunizierend über magische Kanäle am Schnittpunkt im Endlichen. Sie hatte das bestimmte Gefühl, er könne ihre Gedanken lesen, streifte alle Hemmungen ab, lebte ihre antizivilisatorische Wut, fühlte eine Sehnsucht nach Unbedingtheit und existenziellen Grenzerfahrungen. Sein halluzinatorischer Anfall stand dem Tod in mystischer Verbundenheit gegenüber. Das stärkste Fühlen des Lebens, das nicht mehr das Leben selber fühlt, sondern seinen Sinn, dem zusammenfließen mit der höchsten Synthese.
„Nein…“, schoss es Giancarlo durch den Kopf, „…ist es irrwitzig, das Denken zu hinterdenken.“ Er trat einem Kind auf die Füße. In den Augen sah er blankes Entsetzen. Er torkelte weiter. Verspürte unbändige Angst. Sie machte ihn willenlos. Güterzüge in seinem Schädel… abrupt setzte sich in seinem Schädel die E–Lok in Bewegung. In seiner Vorstellung überrollten ihn die Waggons. Er versuchte, sie zu zählen, 10… 9… 8… Mit der Wucht eines Anfalls setzte sein Gehirn die sieben aus. Slight return; Peilung ewige Wiederkehr. Giancarlo fragte sich, ob sein Gehirn noch fähig war, sich selbst zu erkennen, was in seinem Kopf geschah, wie Bewusstsein die Vorstellung seines Ich generierte.
»Non sono mica scemo«, fluchte er vor sich hin. Drehte sich von Jacqueline weg, sie griff instinktiv nach seiner Hand, drückte sie sanft. Mit einem Mal bewegten sie sich so schnell, dass sie von den Umstehenden nicht mehr wahrgenommen wurden.
»Deine Augen blicken mich an. Müde, hundemüde von der Zeit. Du bist mürbe. Es ist soweit. Über diese Grenze hinweg zwischen Angst und Lust. Sieh das Klappmesser. Es liegt auf meinem Handteller«, hauchte sie ein oszillierendes Psychogramm in das Ohr eines ausgebrannten und leer gearbeiteten Menschen, der völlig verlernt hat wie man eigentlich lebt.
Sinnliche Überrumpelung. Sie setzte sich auf seinen Schoss. Rieb langsam ihren Po an seinem Pint. Machte ihn hemmungslos geil. Zippte den Verschluss seiner Hose. Hob ihr Kleid. Schob ihren Slip beiseite. Setzte sich. Senkte sich langsam auf und ab. Leidenschaftliche Hingabe als Akt der Selbstvernichtung. Ihm blieb der Atem stehen. Karpfengleich schnappte er nach Luft. Langsam schaukelten sie sich dem Siedepunkt entgegen. Kamen in stummer Zweisamkeit zum Styx. Jacqueline stiess zu, traf eine Herzkammer. Giancarlo schrie den letzten und verzweifelten Schrei eines Sterbenden. Sie sog ihn ein.
Düstere Glut des Mordens. In Zeitlupe sah er das Messer in seinen Brustkorb eindringen. Synchron explodierte das Feuerwerk über ihren Köpfen. Böllerschüsse, Laserstrahlen. Schlagartig wurde die Kirmes dunkel. Das Feuerwerk spiegelte sich im Kanal. Die Betreiber schalteten das Licht aus. Drehten die Musik leiser. Giancarlos Netzhaut verwandelte das Bild in ein Erregungsmuster. Sein visuelles Verarbeitungssystem nahm Gegenstände noch wahr… die Verbindung zu den Gedächtnisinhalten war gestört. Sein Ende wurde zum Blick ins Leere seiner eigenen Seele. Eine Fledermaus flatterte davon. Außerirdische zogen ihre Umlaufbahnen mit sanften Flügelschlägen über seinem Kopf. Weiße Sterne stoben auseinander. Farbiger Glitzerregen perlte konzentrisch aus den Wolken.
Fortsetzung folgt.
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Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001
In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.