Entdecken aus Langeweile

 

Das Warten an sich ist ein Zustand, dem sich der Mensch täglich hingibt, hingeben muss, er steht irgendwo, wartet auf einen etwas zu spät kommenden Bus. Sitzt auf einer Mauer, weil der beste Freund noch im Stau steht. Vor der Tür einer mittelwichtigen Behörde, der vorgelassene Besucher, der „nur ganz kurz eben“ herein wollte, findet natürlich kein Ende. Es vergeht vielleicht eine viertel, im schlechten Fall sogar eine halbe Stunde. Man quält sich in Wartezimmern und liest notgedrungen die zerlesenen Zeitschriften vergangener Monate, kann sich vielleicht wundern, dass Prognosen eintrafen oder eben nicht. Vielleicht ergibt sich ein Gespräch. Da drängt sich ein älterer Herr auf, der unglaublich böse auf die gehängten Bilder schimpft, auf denen man ja gar nicht erkennen könne, um was es sich handelt. Die sogenannten Künstler und Kunstkenner hätten in Wirklichkeit ja gar keine Ahnung, die betrögen sich doch selber und würden andere nur verarschen. Er selber kenne einen echten Maler, der könne noch etwas, der könne genau das malen, was auf einem Foto zu sehen sei. Die Antwort von Herrn Nipp, das sei ja schön, aber warum solle man das malen, was schon auf einem Foto sei, das könne das Foto doch viel besser, wird dabei beflissentlich überhört. Das Thema wird schnell gewechselt, er faselt etwas von einem stadtbekannten Fleischermeister, dessen Vater auch so gut habe malen können. Eben echte Ölschinken, denkt Herr Nipp und muss lächeln. Er kennt den Fleischer auch nicht, und sagt, er esse leider kein Fleisch. Das macht den Mann wütend und er beginnt auch Herrn Nipp anzugreifen. Was er denn überhaupt wolle, er habe doch auch keine Ahnung von echter Kultur, das könne man schon auf den ersten Blick sehen, er habe ja noch nicht einmal einen ordentlichen Anzug, wie könne ein Mann in seinem Alter nur so herumlaufen.

Einer daneben sitzenden Frau mit kleinem Kind wird es sichtbar unangenehm, sie wechselt den Platz vom Wartezimmer in den Flur. Ihr entgeht allerdings nicht der vorhandene Schlagabtausch. Der ältere Herr will auf Deubel komm raus kommunizieren und wirft sich jetzt auf die Politik, das seien doch alles Verbrecher und die Europäische Gemeinschaft führe noch zum Untergang Deutschlands, damals sei es sowieso besser gewesen. Herr Nipp ist so dumm, geht darauf ein und fragt, was an zwei Kriegen innerhalb weniger Jahrzehnte denn besser gewesen sei, als an mehr als sechzigjährigem Frieden und Wohlstand. Damals habe man noch Stolz gehabt…

Glücklicherweise geht die Tür des Behandlungsraums auf und Herr Nipp wird hereingerufen. Untersuchung, keine Auffälligkeit, Glück gehabt. Als er hinaus kommt, ist auch der alte Mann weg, doppelt Glück gehabt.

Zwei Tage später sitzt Herr Nipp auf einer Verladerampe und wartet auf eine Lieferung, er weiß noch nicht, dass diese nicht mehr kommen wird. Aus Langeweile betrachtet er von erhobenem Standpunkt aus die Pflanzen, die sich zwischen den Platten des Vorplatzes breit gemacht haben. Seit einem halben Jahr hat sich niemand mehr daran gemacht, das sogenannte Unkraut zu beseitigen, zur Freude Herrn Nipps. Er entdeckt, dass sie von oben betrachtet sehr ähnliche Formen haben, fragt sich, wie es sich mit Bäumen verhält, alles wirkt vielleicht wie die Flechten auf einer Mauer, nur ins Dreidimensionale gezogen. In diesem Moment kommt ihm der Gedanke, er würde gerne ein Fotobuch machen mit dem Titel „Solitärgewächse von oben“, dabei würde er keine Unterschiede machen zwischen großen und kleinen, würde sie unkommentiert nebeneinander stellen.

 

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421