Krautrock @ its best

Brüh im Lichte dieses Glückes

Sarah Connor

Die Stärke der Bundesrepublik Deutschland liegt in der Dezentralisierung. Jedes Bundesland hat sein eigenes Kraftzentrum und von Zeit zu Zeit verschiebt sich die Bedeutung. So war etwa gegen Ende der 1970-er Jahre das Dorf an der Düssel die heimliche Hauptstadt der BRD und der Ratinger Hof ihr Regierungssitz.

Der Mensch is guad, de Leit‘ san schlecht!

Karl Valentin

Bevor sich Munc mit den Infrastrukturmaßnahmen zu den Olympischen Spielen zur nördlichsten Stadt Italiens emporschwang, beherbergte die Stadt an der Isar außer dem Stadion an der Grünwalderstraße nicht viele Sehenswürdigkeiten, es sein denn, man hält das Hofbräuhaus für eine Touristenattraktion und Obatzda + Brezn für eine Delikatesse. Die bevorzugte Droge ist Weizenbier, dass man sich sturzbachartig in Halblitergläsern zuführt. Seit dem 23. April 1516 hat das Herzogtum Bayern in das Reinheitsgebot festgelegt.

1967 gründete sich in der Leopoldstraße eine Künstler-Kommune nach dem altägyptischen Gott Amon samt einem nicht eindeutig erklärbaren Zusatz „Düül“ benannte.

Schon bald erlangten die Kommunarden durch ihre musikalischen Sessions bei den Happenings und Demonstrationen der politisierten Jugend Kultstatus. Amon Düül spielte überwiegend improvisierte Musik ohne Songstruktur. Der häufige Mitgliederwechsel der Formation trug nicht zur Ausbildung eines konkreten musikalischen Charakters bei. Man konnte sich jedoch auf kein gemeinsames musikalisches Konzept einigen. Eine Fraktion der Kommunarden vertrat den libertären Weg der künstlerischen Freiheit und nahm jeden auf, der Musik machen wollte, ob er nun singen oder spielen konnte oder auch nicht. Die andere Fraktion war in dieser Hinsicht konservativ eingestellt und legte Wert auf musikalisches Können. Man wollte Spießer schocken und spielte bevorzugt schockierende Anti-Musik. Im Rückblick gilt Amon Düül als einer der wichtigsten Vertreter des Krautrock.

Du hast keine Chance, aber nutze sie

Herbert Achterbusch

Ein wenig an diesem hippinesken Geist scheint sich in Weilheim nach Oberbayern hinübergerettet zu haben. Die Band The Notwist gilt als auslösender Impuls für die Gründung zahlreicher Weilheimer Bands und als Mittelpunkt eines Netzwerkes von mehr oder weniger eng miteinander verknüpften Projekten lokaler Musiker. Die Mitglieder von The Notwist sind oft auch noch in anderen Projekten vertreten oder veröffentlichen solo, unter anderem bei oder mit Tied & Tickled Trio. Lali Puna, Ms. John Soda, Potawatomi, Ogonjok, 13&God, Bolzplatz Heros, Schweisser, Café Unterzucker, Rayon und der Hochzeitskapelle. Viele dieser Bands waren auf dem Label Hausmusik vertreten.

Ein Blick zurück nach vorn

Zu Anfang der 1990er-Jahre begannen Markus und Micha Acher in Weilheim als Heavy-Metal-Band, zusammen mit dem Schlagzeuger Martin Messerschmid. Sie veröffentlichten zwei Alben voller dröhnender Drums und Gitarrensoli (The Notwist und Nook), bevor sie die Band fast ganz aufgeben wollten. Mit Nook begannen sich die Dinge jedoch bereits zu ändern. Das Interesse ging weg von dröhnenden Power-Riffs und hin zu komplexen Rhythmen und Strukturen. Trotzdem würden die meisten Leute, die sich diese Alben heute anhören, kaum glauben, dass dieselbe Band dieses Album gemacht hat.

Eine hypnotische Melange aus Percussion-Samples

Bei Shrink sind die Metal-Riffs fast verschwunden, es das Album, auf dem The Notwist zum ersten Mal ihr volles Potenzial ausschöpfen. Die Band vermischt so unterschiedliche Klänge wie Laptop-Cuts und Bleeps, Jazz und traditionelle Popsongstrukturen auf eine Weise, die berauschend klingt. Die Band übernimmt den sanfteren, melodischeren Stil von Torture Day von 12 und führt ihn auf Shrink weiter. Consoles Einfluss ist auf diesem Album Platte deutlicher, was man gleich in den ersten Momenten des ersten Stücks, Day 7, hört. Eine hypnotische Melange aus Percussion-Samples läuft über zwei Minuten, während der Rest der Band langsam einsetzt. Dann startet der Song mit Messerschmids eindringlichem Beat, einem verzerrten Bass und klaren, klingenden Gitarren. Der Jazz-Einfluss auf Shrink ist ebenso ausgeprägt wie die Laptop-Programmierung, was man im Instrumentalstück Moron hört. Das lehrbuchmäßige Lounge-Stück kombiniert Bassklarinette, E-Piano, ein fantastisches improvisiertes Saxophonsolo und scharfe Akzente durch gedämpfte Trompeten, selten klang Pop-Jazz entspannter.

Console ist eine Elektronik-Band, die als Soloprojekt von Martin Gretschmann gegründet wurde

Mit Console als Vollzeitmitglied war dieses Album ein großer Schritt in die Welt der elektronischen Musik und klang völlig anders als alles, was damals sonst gemacht wurde. Dieses Album wurde intelligent produziert und es ist auf angenehme Weise unspektakulär, wie The Notwist hier Elektronik und Rock einander durchdringen lassen und das eine als Staffage für das andere missbrauchen. Mit Shrink entstand eine sich undefinierbar anfühlenden Uneindeutigkeit, die die Möglichkeiten vermehrt und Sounds jenseits der etablierten Genrestandards entlang laufen lässt, ohne dass die Verbindung zu ihnen gekappt würde. Mit einer Mischung aus Rock und Pop mit Jazz, altmodischem Folk, schroffen minimalistischen Beats und so ziemlich allem, was man sonst noch dazutun kann. Es ist es schade, dass nur wenige davon Notiz genommen haben; das Label ging pleite (wodurch Shrink in der Vinyl-Ausgabe schwer online zu finden ist). The Notwist ging zurück nach verschwand für ein paar Jahre. So schien es.

Dieses Album wirkt nie überladen, sondern immer natürlich, warm und sanft.

Neon Golden ist voll von strukturierten Klängen, treibenden (und gelegentlich treibenden) Pulsationen und hypnotisierenden Hypnorhythmen; es bei diesem Album um Texturen: elektronisches Blöken, pulsierende Wellen, die Mischung organischer Instrumente mit digitalen Piepsern, Loops und vor allem die Sanftheit von Markus Achers Stimme. Bei This Room gibt es einen Moment, wo die treibende Perkussion plötzlich zu einem wahnsinnigen Ende kommt und nur Achers kantig-teutonischer Gesang, der eine ganz eigene Note besitzt, eingebettet in eine Welle aus elektronischem Gurgeln und pulsierenden Beats.

Eine Fusion von Indie-Rock und Elektronic

An anderer Stelle besteht ein Track wie One Step Inside Doesn’t Mean You’ll Understand aus gezupften Saiten über einem tiefen Saxophonstöhnen, während Zischen und Knistern knapp unter der Oberfläche blubbern und auf das Ende des Songs warten und mit dem Summen von nichts als Fuzz ausklingen, als ob die Nadel gerade in einer festsitzenden Rille gefangen wäre. Vor diesem abklingenden Summen beginnen sich dünne Klangschichten zu entfalten, etwas, das auf fast jedem Track zu sehen ist – sei es das charakteristische Notwist-Banjo, klirrende Perkussion oder die geschichtete Elektronik. Sogar auf Neon Goldens treibendem Track „Pilot“ lässt die Band Raum, damit diese nachhallenden elektronischen Summen durchbrechen können.

Dynamischer Gitarrenpop mit glitschigen Beats, manchmal klingt es nach futuristischem Kammerpop

The Notwist haben ein unheimliches Talent dafür, ihren Kompositionen Raum zum Atmen zu geben und so üppige Klangtexturen zu schaffen. Eine dynamische Nummer wie Pilot wirkt nachdenklich und gemächlich, die Songs gehen mit trägen Bewegungen ineinander über. Pick Up the Phone ist voll von  spitzen Beats und klingt wie das Geräusch von zerknüllten Bonbonpapieren. Während Markus Acher mit etwas singt, das manchmal wie kaum gedämpftes Flüstern klingt, beginnt Neon Golden eine introspektive Schönheit anzunehmen, fast so, als ob alles (die Musiker, der Sänger, die Musik) in kontemplativen Gedanken verloren wäre…

Nirgendwo ist diese Nachdenklichkeit so präsent wie in Stücken wie Neon Golden oder Off the Rails.

Die gedämpfte, ruhige Schönheit einer Akustikgitarre und Achers sanftes „this is all I know“-Gesang über elektronischen Klangwogen in letzterem ergeben Schlafliedmaterial. Neon Golden beginnt als düsteres Klagelied, das ein tiefes Saxophonstöhnen, gezupfte Akustikgitarre und Banjo sowie den mantraartigen Titelgesang enthält. Im weiteren Verlauf wird das Lied jedoch von vereinzelten Perkussionsinstrumenten, rhythmischen Trommeln, Congas und dem murmelnden Summen der elektronischen Manipulationen von Console übernommen. Anfangs hat man ambivalente Gefühle gegenüber Consequence, aber dann hört man, dass es die perfekte Wahl für ein Abschlusslied ist. Markus Achers liebliches, klagendes Stöhnen von „Leave me hypnotized, love / Leave me paralyzed, love“ ist das einzige Mal, dass der Text vor dem Hintergrund des Liedes steht, stark und aufschlussreich. Neon Golden kann genau das, was er singt: Es lässt Sie hypnotisiert zurück, in meditativen Gedanken verloren und von den körnigen, exquisiten Texturen gefesselt.

In den 1970-er Jahren bezeichnete man Bands aus Bayern wie Amon Düül als Krautrock

Der Band aus Oberbayern ist eine beeindruckende Melange aus Pop, Elektronik und Jazz gelungen. Mit Neon Golden haben The Notwist nach einem Jahrzehnt ihrer Karriere haben ein bahnbrechendes Meisterwerk geschaffen, indem sie denselben Trick angewandt haben wie auf dem Übergangsalbum Shrink, sie vermischen Dinge, die auf den ersten Blick nicht zusammenzupassen scheinen, zu einem nahtlosen Ganzen. Es ist Krautrock @ its best.

 

 

***

Shrink, The Notwist, 1998

Neon Golden, The Notwist, 2002

Das Album „Neon Golden“ klingt nach dynamischem Gitarrenpop mit glitschigen Beats, und manchmal nach futuristischem Kammerpop

Weiterführend  Der Begriff `Krautrock´ geht auf das Wort „Sauerkraut“ sowie die Bezeichnung „Krauts“ für die deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg zurück. Der Ursprung des Wortes Krautrock geht auf eine Werbeanzeige der deutschen Firma Popo Music Management zurück, die in der US-amerikanischen Zeitschrift Billboard das Wort 1971 erstmals benutzte, um für Platten von Bacillus Records zu werben. Dieser Begriff wurde von der britischen Presse aufgegriffen und häufig benutzt. Peinlich wird Krautrock immer dann, wenn Deutsch Bands versuchen englische Texte zu verzapfen. Daher ein Hinweis auf die Deutschen Texte von Ton, Steine, Scherben. Sowie auf Ran! Ran! Ran! – THE BEST OF FAMILY*5 / VOL. I, zusammengestellt von Xao Seffcheque. Inzwischen ist das alte Thema Compact Cassette wieder aufploppt. Laut eines Berichts im Deutschlandfunk sind Tapes „Hipper als Vinyl“, wir spulen zurück in die Zukunft des Cassettenlabels. Danach ertastet KUNO den Puls des Motorik-Beats. Und machen eine Liebeserklärung an die „7-Inch Vinyl Record Single“. Krautrock ohne angloamerikanisches Vorbild – lässt es auch die Kraaniche fliegen? Auf Embryo’s Reise entdeckten die Musiker zwar nicht Amerika, sondern die Weltmusik. Ist das noch Krautrock? – Eher Labskaus vom feinsten! Last but least: Krautrock @ its best!

Inzwischen gibt es: Pop mit Pensionsanspruch, sowie eine Rock and Roll Hall of Fame. Daher der Schlussakkord: Die Erde ist keine Scheibe

 

Post navigation