ich gehe in den hinterhof eines halb verfallenen hauses, dessen bewohner als asozial gelten, und trage einen beutel bei mir. denn ich will flaschen im müll suchen, sie verkaufen und damit etwas geld erwerben. knapp kann ich mich vor einem mann verbergen, der aus dem hauseingang hervortritt, den ich eben passierte. ich lehne mich gegen die wand, erleichtert, daß ich unentdeckt blieb. da packt von hinten ein hund meine beine. ich drehe mich erschrocken um und erkenne, der hund hat mein gesicht. unmittelbar danach erwache ich im bett mit dem gefühl, jemand sei in mein zimmer eingedrungen. ich zünde das licht an und erblicke eine art gefängniszelle. draußen höre ich einen schneesturm. und ich erinnere mich, daß ich ins polargebiet verbannt wurde. ich betrachte mein inventar: einfachste holzmöbel, propangasflaschen, fertigsuppen, käse, tee. ich trete vor die tür und eisiger wind weht mir entgegen. plötzlich stehe ich auf einer rolltreppe und fahre vorbei an bizarren eisgebilden, die teils erotisch anmuten. ich sehe eine schlichte weiße kirche vor mir, umgeben von futuristischer architektur. die rolltreppe wird immer schneller und wirft mich ab. ich liege reglos und sehe blut aus meinem kopf rinnen.
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Traumnotate von Holger Benkel, KUNO, 2003
Die Frage nach der besonderen Kompetenz der Dichter für die Sprache und die Botschaft der Träume wurde durch Siegmund Freud fundamental neu gestellt. Im 21. Jahrhundert ist die Akzeptanz des Träumens und des Tagträumens weitaus größer als noch vor hundert Jahren. Träumen wird nicht mehr nur den Schamanen oder Dichter-Sehern, als bedeutsam zugemessen, sondern praktisch jedermann. Gleichwohl wird den Dichtern noch immer eine ‚eigene‘ Kompetenz auf dem Gebiet des Traums zugesprochen – Freud sah sie sogar als seine Gewährsmänner an, mit Modellanalysen versuchte er diese Kompetenz zu bestätigen. Die Traumnotate von Holger Benkel sind von übernächtigter, schillernd scharfkantiger Komplexität.
Weiterführend →
In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier.