Über den Einfluß des Islams auf Deutschland ist bereits viel geschrieben worden. Hervorzuheben sind zwei Bücher von Sigrid Hunke, „Allahs Sonne über dem Abendland“ und „Kamele auf dem Kaisermantel“, die ausführlich darüber berichten, welche Prägungen islamisches Denken und Errungenschaften arabischer oder persischer Kultur im deutschen Geistesleben wie auch im Alltag der Deutschen hinterlassen haben.
Angefangen von der Märchen der Gebrüder Grimm, die sufische, also islamisch-mystische Metaphern und Symbole beinhalten, die durch fahrende Sänger (Troubadure) zu uns gekommen sind, bis hin zu Wörtern der arabischen Sprache, von „Tasse“ über „Kiosk“ zum „Alkohol“, die vom Deutschen aus dem Arabischen entlehnt wurden, gibt es eine Fülle von islamischen Spuren oder Übernahmen aus dem Islam, die in deutschen Ländern Eingang gefunden haben.
Besonders das maurische Spanien, das offen war für Weisheit und Wissen, wo immer sie zu finden waren, hat nachhaltig auf das deutsche Geistesleben eingewirkt. Die Praxis von Kalifen, Bibliotheken und Universitäten aufzubauen, wie auch die islamische Gewohnheit, der Erforschung des Menschen und seiner Lebensumstände ganz praktisch zu entsprechen, indem nach den Ursachen für Krankheiten gefragt wurde, was zu medizinischen Entdeckungen und der Förderung des Gesundheitswesens durch Ärzte und Krankenhäuser führte, wurden vom Abendland übernommen.
Die Blüte der Wissenschaft in den islamischen Ländern, die keine Scheu hatte, von anderen Völkern zu lernen, fand bald auch Entsprechung unter europäischen Geistesgrößen, die sich, oftmals über Jahrhunderte hinweg, den Forschungsergebnissen der Muslime verpflichtet sahen.
Brücken zwischen dem Islam und Deutschland wurden durch Kalifen und Kaiser gebaut, etwa auch durch Friedrich II, der auf Sizilien residierte und vieles aus der islamischen Kultur übernommen hatte (deswegen auch Sigrid Hunkes Buchtitel: Kamele auf dem Kaisermantel).
Auch die deutsche Literatur hat sich schon früh mit dem Islam und seinen Dichtern beschäftigt. Nicht nur Lessings vielgerühmtes Drama „Nathan der Weise“ mit seiner legendären Ringparabel ist dafür Beweis, es gab sogar regelrechte Phasen eines deutschen Orientalismus, durch etwa Heinrich Heine, ganz bedeutsam dann Friedrich Rückert (der eine Versübersetzung etlicher Passagen aus dem Heiligen Quran verfasste), vor allem aber Goethe geprägt wurden. Es war zum Beispiel das persische Poeten-Genie Hafiz, durch den Goethe zu seinem größten Alterswerk, dem „West-Östlichen Diwan“ angeregt wurde. Und Goethe auch war es, der dem Islam eine so große Sympathie entgegenbrachte, dass man sagen kann, dass er sich eher für einen Muslim hielt, denn einen Christen. Das Werk von Katharina Mommsen über Goethe und den Islam spricht diesbezüglich Bände.
Die erste Übersetzung des Heiligen Qurans in Europa erschien 1143, vorgelegt von dem Engländer Robert von Katena und dem Deutschen Hermann von Dalmatien. Sie hatte jedoch wenig Ähnlichkeit mit dem Original und war voller mutwilliger und tendenziöser Entstellungen.
Es folgten weitere Übersetzungen, immer noch nicht in gebührender Genauigkeit, aber dennoch von einer Aussagekraft, die viele Dichter des 19. Jahrhunderts, allen voran Goethe, zur Bewunderung veranlaßte.Goethe hatte übrigens schon in seiner Jugend ein Lobesgedicht auf den Heiligen Propheten Muhammad (Mahomet), Segen und Frieden Allahs seien auf ihm, geschrieben, das sogar noch in unserer Zeit in Lesebüchern Aufnahme gefunden hat. Das Fragment eines Schauspiels über den Propheten des Islams, das Goethe, sich auf ein ziemlich herabwürdigendes Drama von Voltaire berufend, niederschrieb, ist indes verschollen. Bemerkenswert sind jedoch Verse von Goethe, die den Islam als Grundwert jeglicher religiösen Haltung priesen. Zum Beispiel:
Närrisch, daß jeder in seinem Falle
Seine besondere Meinung preist!
Wenn Islam Gott ergeben heißt,
Im Islam leben und sterben wir alle.
Im übrigen hatte Goethe, zusammen mit einigen seiner Bewunderer, vor allem Damen, einmal an einem islamischen Gottesdienst, dem Freitagsgebet (Juma) in Weimar teilgenommen, als muslimische Soldaten dort weilten.
Im 19. Jahrhundert auch gab es einige Deutsche, die den Islam als ihre Religion annahmen, wenngleich nicht auszuschließen ist, dass bereits zur Zeit der Kreuzzüge einige der nach Jerusalem ziehenden Ritter so von der Vornehmheit und Schönheit islamischen Lebens und islamischer Gesinnung eingenommen waren, dass sie fasziniert das islamische Glaubensbekenntnis von der absoluten Einheit Gottes und der Gesandtschaft Muhammads (Segen und Frieden Allahs seien auf ihm) im Herzen annahmen. In seinem Buch „Die Sufis“ hat Idries Shah dargelegt, wie islamisches Denken und Wissen untergründig von der Mystik zugewandten Europäern aufgenommen und weitergegeben wurde.
Neben der romantischen Begeisterung für muslimische Kultur, vor allem der mystischen Dichtung eines Rumi oder Hafiz, die Niederschlag auch in eigenständigen deutschsprachigen Gedichten erlebte, die in Stil und Inhalt den Bewunderten nahe zu kommen suchten, waren es dann deutsche Orientalisten, die sich den Erkenntnissen der islamischen Theologie und Philosophie widmeten. Ihnen verdanken wir zahlreiche Übertragungen islamischer Werke, etwa denen des großen Reformers (Mujaddids) seiner Zeit, Muhammad Al-Ghazzali, mit denen sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts indes meist nur eine Fachwelt konfrontierten.
Breite Bevölkerungsschichten haben eine Ahnung vom Islam dann durch Karl May erhalten, der jedoch auch viel dazu beigetragen hat, dass Verfälschungen der originalen Lehre des Heiligen Propheten ins Bewußtsein der Massen drangen. So hat sich hartnäckig seine völlig unbegründete Vorstellung bis heute erhalten, der Islam lehre, die Frau habe keine Seele usw. Aber seine Bücher über den Mahdi des Sudan, über Mekka und Derwische trugen wesentlich dazu bei, dass dem Islam ein gewisses Interesse entgegen gebracht wurde.
Zudem waren es die Märchen aus 1001 Nacht, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts in einer unüberschaubaren Anzahl von Büchern, meist mit entsprechend malerischen, folkloristischen Bildern versehen, auch in Deutschland gedruckt wurden und bis heute nichts von ihrer Faszination eingebüßt haben. In unseren Tagen haben Helden aus 1001-Nacht, Aladin etwa oder Sindbad, in Comics und Zeichentrickfilmen Einzug fast in jedes Haus gehalten.
Aber erst im Jahre 1923 gab es die erste Bemühung von muslimischer Seite, Deutsche mit der Botschaft des Islams vertraut zu machen. Der 2. Kalif der Ahmadiyya Muslim Jamaat, Hadhrat Mirza Bashir-du-Din Mahmud Ahmad, sandte von Qadian (Indien) zwei Missionare nach Berlin, die die Aufgabe hatten, eine große Moschee zu errichten und die islamische Lehre, wie sie von Hadhrat Mirza Ghulam Ahmad, dem Verheißenen Messias und Mahdi des Islams, Frieden sei auf ihm, unserer Zeit neu gegeben worden ist, allgemein bekannt zu machen. Leider jedoch scheiterte das Vorhaben an der damals grassierenden Inflation, die das mitgebrachte Spendengeld, das vor allem von Frauen der Gemeinde stammte, zerschmelzen ließ. Indes zeigen die seinerzeit erstellten Baupläne, welcher Großmut die Ahmadiyya Muslim Jamaat in jenen Tagen auszeichnete. Andererseits waren es auch die politischen Wirren der Weimarer Republik, die dazu beitrugen, dass eine sinnvolle und friedliche Bekanntmachung des Islams nicht ermöglicht wurde.
Einer Abspaltung von der wahren Lehre des Mahdis, die als Lahoris bekannt geworden war, gelang es allerdings dann im Jahre 1925, eine große Moschee im Moghul-Stil in Berlin zu errichten, deren Schicksal in den Jahren des Nationalsozialismus und darüberhinaus aber zeigte, dass die äußeren Widrigkeiten jener Jahrzehnte einem vernünftigen und gradlinigen muslimischen Leben im Weg standen, von den inneren Schwierigkeiten der Lahoris ganz zu schweigen (heutzutage beträgt ihre Anhängerschaft nur einige hundert Gläubige, und als der langjährige Imam der sogenannten Wilmersdorfer Moschee im Sommer 2003 sein Amt aus Altersgründen niederlegen mußte, verweigerte das Auswärtige Amt einem Nachfolger die Einreise, weil es offensichtlich keinen Bedarf für ihn in Berlin gebe – von einer Gemeinde, die sich um diese Moschee, gruppierte, kann in der Tat nicht die Rede sein).
Ganz anders verhält es sich mit der Ahmadiyya Muslim Jamaat, die, im Gegensatz zu den Lahoris, von einem Kalifen geleitet wird. Sie ist mittlerweile in 176 Ländern der Erde mit Niederlassungen vertreten und umfaßt heutzutage über 200 Millionen Ggläubige. Bald nach Ende des 2. Weltkrieges entsandte sie einen Missionar nach Hamburg, Sheikh Nasir Ahmad. Er hatte sich in der Schweiz angesiedelt und betreute von dort aus die deutsche Niederlassung. Schon 1949 gründete er die Zeitschrift „Der Islam“, die seitdem, von einigen kleinen Pausen abgesehen, regelmäßig erscheint, indes 2003 in „Islam Forum“ umbenannt wurde. Seiner Arbeit ist es zu verdanken, dass die riesige Aufgabe, eine deutsche Übersetzung des Heiligen Qurans vorzulegen, die muslimischem Selbstverständnis entspricht, erfolgreich bewältigt wurde, so dass 1954 eine deutsche Fassung des Heiligen Qurans zusammen mit dem arabischen Original gedruckt werden konnte. Seither ist diese vielgelobte Übersetzung in zahlreichen Neuauflagen, und auch Verbesserungen, erschienen, später auch als Taschenbuchausgabe, die tausende von Lesern für sich einnahm.
Mit dem Missionar Abdul Latif, der Sheikh Nasir Ahmad ablöste, begann eine neue Phase des Islams in Deutschland. Sein unermüdlicher Einsatz für die Lehre des Heiligen Propheten und seine Erläuterung durch den Verheißenen Messias zeigte bald Erfolge, und wenn auch viele der neuen Konvertiten aus privaten Gründen nicht als Mitglied der Ahmadiyya Muslim Jamaat heimisch wurden, so ist für sie Abdul Latif doch, wie sie noch heute bekennen, „der Vater“ des Islams in Deutschland. 1957 dann wurde mit Spendengeldern aus aller Welt in Hamburg unter seiner Leitung die erste Moschee in Westdeutschland erbaut, die Fazle-Omar-Moschee. Zwei Jahre später wurde sogar in Frankfurt am Main von Sir Zafrulla Khan, dem ersten Außenminister Pakistans, UNO-Vollversammlungspräsidenten, Richter und mehrmaligem Präsidenten des Internationalen Gerichtshofs zu Den Haag, die Nuur-Moschee eröffnet, die im Lauf der Jahre so illustre Gäste zum Gebet empfangen durfte wie Muhammad Ali, den Boxweltmeister, oder Prof. Dr. Abdus Salam, den ersten muslimischen Nobelpreisträger.
In den 50ern und bis Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts war die Ahmadiyya Muslim Jamaat die herausragende Vertretung des Islams in Deutschland. Verstreute Sufi-Gruppen und die schiitische Gemeinde in Hamburg, die Anfang der 60er die prächtige Ali-Moschee an der Alster erbaute, blieben weitgehend unter sich. Hingegen kamen Muslime aus allen möglichen Denkschulen und Richtungen von weither etwa zu den Id-Gottesdiensten (den Feierlichkeiten am Ende des Fastenmonats Ramadan und der Pilgerfahrt), die in den Ahmadiyya-Moscheen stattfanden, angereist. Es herrschte eine allgemeine Brüderlichkeit, und von Dissens war nichts zu spüren. Die Muslime in Deutschland waren zahlenmäßig so klein, dass sie froh waren, Orte zum gemeinsamen Gebet zu haben, ohne über theologische Fragen in Streit zu geraten.
Die Situation änderte sich, als Ende der 60er Jahre Gastarbeiter aus der Türkei nach Westdeutschland geholt wurden. Zuvor schon hatte es durchaus auch Muslime gegeben, die sich bewußt von der Ahmadiyya Muslim Jamaat fern hielten, ja sogar gegen sie agitierten, aber durch den Zustrom von Muslimen aus der Türkei kamen auch Angehörige von spezifisch türkischen Gemeinden in die Ballungsräume der Bundesrepublik, die ihre eigenen Vorbeter (Hodschas) bevorzugten und sich darum bemühten, eigene Gebetsräume einzurichten.
Zu einem offenen Bruch zwischen orthodoxen Muslimen und der Ahmadiyya Muslim Jamaat trug im Jahre 1973 und danach der Fanatismus von Mulllahs (Muslimische Priesterschaft) bei, die in ihrem Bemühen, eine Spaltung zwischen dem aufgeklärten Islam der Ahmadiyya Muslim Jamaat und ihren buchstabengläubigen Interpretationen der islamischen Quellen (Quran, Hadith) herbeizuführen, erfolgreich waren. Zusammen mit engstirnigen Politikern, die dadurch Macht zu erlangen suchten, wurden somit Beschlüsse gefaßt, denen zufolge Ahmadi-Muslime zu Ungläubigen erklärt wurden. Dass dieses perfide Unterfangen dem Buchstaben und Geist des Heiligen Qurans sowie den Worten des Heiligen Propheten Muhammads, Segen und Frieden Allahs seien auf ihm, Hohn sprach, focht sie nicht an. Wer die Begründung für ihr sektiererisches Verhalten liest und einigermaßen mit den Aussagen des Gründers der Ahmadiyya Muslim Jamaat vertraut ist, wird sich erstaunen müssen ob der Unverfrorenheit, mit der in ihr Lügen aufgetischt wurden. Aber der Haß, der diese selbsternannten Glaubensrichter ausfüllte, ließ sie blind werden für die Wahrheit, wiewohl es leicht ist, ihren Betrug nachzuweisen.
Der Heilige Prophet Muhammad Mustafa, Segen und Frieden Allahs seien auf ihm, hatte, wie allen ein wenig in der Religion des Islams Bewanderten bekannt ist, ausdrücklich gesagt, dass wer immer das islamische Glaubensbekenntnis (Es gibt niemand Anbetungswürdigen außer Allah, Muhammad ist der Gesandte Allahs) äußert, als Muslim anerkannt werden muß. Und er sagte auch, wenn immer ein Muslim einen Muslim einen Ungläubigen nennt, ist er selbst kein Muslim mehr. In diesem Sinne ist der „Ausschluß“ der Ahmadi-Muslime aus dem Islam ein anti-islamischer Akt. Kein wie auch immer geartetes Gremium hat die Befugnis, einen Muslim aus dem Islam auszuschließen. Zudem unterscheidet im Wesentlichen Ahmadis und Nicht-Ahmadis nur die Antwort auf die Frage, wie und wann Jesus und der Mahdi erscheinen werden bzw. ob sie bereits erschienen sind. Ahmadis glauben an alle fünf Pfeiler des Islams und verhalten sich auch dementsprechend, sie glauben an die Artikel des Glaubens, die seit Jahrhunderten fest im Lehrgebäude des Islams verankert sind. Dass sie dennoch mit lügnerischen Beschuldigungen angegriffen und sogar zu Ungläubigen erklärt werden, ist ein Trauerspiel und eines wahren Muslims unwürdig.
Die Anti-Ahmadiyya-Unruhen im Pakistan des Jahres 1973, bei denen Ahmadis zu tausenden militant angegriffen wurden, bei denen viele Ahmadis ihr Leben lassen mußten, bei denen ungezählte Ahmadi-Häuser und Geschäfte niedergebrannt und geplündert, gebrandschatzt und zerstört wurden, waren nicht nur deswegen von aufrührerischen Gewalttätern lanciert worden, damit sie ihre Wut über die Friedensbotschaft des Mahdis auslassen konnten, sie waren auch Teil eines politischen Ränkespiels des damaligen pakistanischen Premierministers Zulfikar Ali Bhutto. Er war es, der das Parlament, also eine rein weltliche Organisation, darüber abstimmen ließ, ob Ahmadis weiterhin wie Muslime zu behandeln seien. Im Zuge der ausgebrochenen Pogrome und der damit einhergehenden Verfolgungen flohen tausende von Ahmadis, vom Tode bedroht, aus Pakistan und suchten Zuflucht in Ländern, die bereit waren, ihnen Asyl zu gewähren. Mit einem Male sah sich die deutsche Ahmadiyya Muslim Jamaat vor die Situation gestellt, diesen Flüchtlingen Obdach und geistlichen Beistand zu geben. Dank verständnisvoller Rechtsprechung konnte sich die Mehrzahl der Geflüchteten auf Dauer in Westdeutschland niederlassen. Und so wuchs die deutsche Gemeinde um ein Vielfaches, was neue Anforderungen mit sich brachte. Lokale Gemeinden wurden gegründet, die Struktur der Jamaat wurde auf jenes Niveau gehoben, die in Ländern, in denen sehr viele Ahmadis leben, üblich ist.
1970 war der deutsche Schriftsteller Hadayatullah (ehemals Paul-Gerhard) Hübsch nach einer abenteuerlichen Reise durch die Wirren der 60er Jahre mit ihren Umwälzungen und Veränderungen, wie sie die Studentenrevolte und die Hippie-Bewegung mit sich brachten, der Ahmadiyya Muslim Jamaat beigetreten. Ebenfalls auf wundersame Weise war ein Bekannter von ihm, Uwe (später Abdullah) Wagishauser 1976 zur Annahme des islamischen Glaubens gelangt. Beide wurden innerhalb der Gemeinde bald mit vielfältigen Aufgaben betraut.
Als 1984 in Pakistan General Zia ul Haq an die Macht kam und seinen Vorgänger, Bhutto, hinrichten ließ, war dies für die Ahmadiyya Muslim Jamaat auch ein gewisser Meilenstein. Zia ul Haq, ein Mullah-Sohn, erließ bald darauf die berüchtigten Anti-Ahmadiyya-Gesetze, aufgrund derer tausende von Ahmadis gefangengenommen wurden und durch die es immer wieder zu Ermordungen von Ahmadis kam. Das seinerzeitige Geistliche Oberhaupt der Gemeinde, Hazrat Mirza Tahir Ahmad, der 4. Kalif nach Erscheinen des Mahdis und Messias, mußte Pakistan verlassen und nach London ins Exil gehen. Abertausende pakistanischer Ahmadis suchten ebenfalls Asyl. Somit kamen wiederum viele tausend Ahmadis nach Deutschland (mittlerweile sind es über 25.000). Dadurch veränderte sich die Situation der deutschen Ahmadiyya Muslim Jamaat erneut.
Die in Ländern, in denen es eine Vielzahl von Ahmadis gibt, bestehende Unterorganisationen wurden auch in Deutschland eingerichtet. So die Frauenorganisation Lajna Ima-Allah (Frauen Gottes), die eigenständig unter dem Vorsitz ihrer Präsidentinnen arbeitet. Es gibt in ihr lokale Präsidentinnen, Präsidentinnen auf regionaler sowie eine Präsidentin auf der nationalen Ebene. Die Organisation der jungen Männer zwischen 15 und 40, Khuddamul Ahmadiyya genannt, hat gleichermaßen diese Struktur, und so verhält es sich auch mit der Organisation der älteren, über 40 Jahre alten Männer, die Ansarullah heißt. Weiterhin gibt es die Kinderorganisationen Nasirat (für Mädchen) und Atfal (für Jungen).
Im lokalen Bereich werden jeweils Präsidenten (Sadr) gewählt, die für die lokale Gemeinde insgesamt zuständig sind, ohne dass sie sich jedoch in die Angelegenheiten der Unterorganisationen einmischen.
Auf regionaler Ebene sind regionale Amire (Verwalter) eingesetzt, und auf der nationalen Ebene fungiert der Nationale Amir (Vorsitzender), derzeit Abdullah Wagishauser (der dieses Amt nunmehr seit rund 18 Jahren bekleidet). Er trägt die Verantwortung für die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der gesamten Gemeinde im Bereich der Verwaltung aller ihrer Zweige.
Der nationale Amir, aber auch die regionalen Amire sowie die Präsidenten (Sadr genannt) arbeiten, sowohl auf der Frauen- als auch auf der Männerebene, mit einem Kabinett zusammen, Aamla genannt, das zumeist aus gewählten Verantwortlichen für die unterschiedlichen internen und äußeren Aufgaben der Gemeinde besteht.
In jedem Jahr tagt unter seinem Vorsitz die sogenannte Schura (beratende Versammlung, zu der alle lokalen Gemeinden je nach ihrer Größe eine bestimmte Anzahl von Repräsentanten entsenden. Alle drei Jahre wählen die Teilnehmer der Schura den nationalen Amir als auch die meisten Mitglieder der Aamla. Dem Geistlichen Oberhaupt der Gemeinde, dem Kalifen, obliegt es aber, die Gewählten zu bestätigen oder auch nicht. Auf der Schura werden außerdem Fragen des Gemeindelebens diskutiert und das Budget beraten, das wiederum dem Kalifen zur Annahme oder Abänderung vorgelegt wird.
Die Gemeinde finanziert sich ausschließlich durch Mitgliedsbeiträge, die 1/16 vom Netto-Einkommen jedes Mitglieds betragen. Abgesehen davon tragen die Gemeindemitglieder durch weitere finanzielle Opfer zur Verwirklichung von bestimmten Projekten bei, etwa dem Bau von Moscheen oder dem Betrieb des gemeindeeigenen Fernsehsenders.
Die Gemeinde ist als gemeinnützig anerkannt und muß somit jedes Jahr dem Finanzamt genaue Rechenschaft über Einnahmen und Ausgaben ablegen.
Die Vielzahl der neuen, eingewanderten Ahmadis wurde im Lauf der Jahre ergänzt durch zahlreiche Übertritte von Deutschen, Arabern, Türken und Angehörigen anderer Nationen. Als im Verlauf der Balkankriege ungezählte Bosnier und Albaner nach Deutschland kamen, nahmen tausende von ihnen Baiat, d.h. sie gaben ihr Treuegelübde gegenüber dem Kalifen ab und wurden Mitglieder der Ahmadiyya Muslim Jamaat.
Für die Angehörigen der unterschiedlichen Nationen wurden nunmehr auch eigene Publikationen herausgegeben, und es gibt überdies regelmäßige Treffen der Deutschen, Türken etc., auf denen ihre spezifischen Probleme diskutiert werden.
Für den „Verlag Der Islam“ und einige deutschsprachige Zeitschriften ist seit zwei Jahrzehnten weitgehend Hadayatullah Hübsch zuständig, Herstellung und Vertrieb ausgenommen. Mittlerweile sind in diesem Verlag über 100 Bücher und Broschüren veröffentlicht worden, und zudem erscheinen die deutschsprachigen Zeitschriften „Weißes Minarett“ (halbjährliches Magazin), „Islam im Brennpunkt“ (Zeitschrift mit Anmerkungen zu aktuellen Themen, wie sie z.B. durch Leserbriefe den Medien von Ahmadis usw. zugesandt wurden) und „Islam Forum“ (mit jeweils einem langen Artikel theologischer Natur).
Außerdem gibt eine Redaktion aus deutschen Ahmadi-Musliminnen die Zeitschrift „Nuur – für Frauen“ heraus. Eine weitere Publikation ist intern für die deutschen Muslime gedacht, das „Deutsche Bulletin“. Zudem gibt die Ahmadiyya Muslim Jamaat regelmäßig zwei Jugendzeitschriften in deutscher Sprache heraus, „Nurudin“ und das „Jugend Journal der Jamaat“ (JJJ). Alle Gemeindemitglieder (bzw. die Familien) erhalten kostenlos einmal monatlich das „Ahmadiyya Bulletin“, das zweisprachig, in Deutsch und Urdu (der Landesprache Pakistans), abgefaßt ist und auch das monatliche TV-Programm der deutschen Sendungen des gemeindeeigenen Fernsehsenders MTA enthält. Zudem ist sie im Internet auf „www.ahmadiyya.de“ präsent.
Fast alle der durch ein Amt in Verantwortung stehenden Mitglieder arbeiten ehrenamtlich und ohne finanzielle Vergütung. Eine Ausnahme bilden die Moballighs (Botschafter des Islams), die auch Missionare genant werden können. Sie haben ihr Leben dem Islam geweiht und eine siebenjährige Ausbildeung an einer der Universitäten der Gemeinde durchlaufen. Für ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familien kommt die Gemeinde auf. Sie sind sowohl im seelsorgerischen Bereich, als auch als Imame (Leiter des Gebets und vor allem des freitäglichen Hauptgottesdienstes, bei dem sie auch eine Predigt halten) tätig, überdies aber bisweilen auch in anderen Metiers, zum Beispiel als Verantwortliche für das deutschsprachige Fernsehprogramm oder Übersetzungsarbeiten und die Herstellung von Literatur. Insgesamt gibt es in der deutschen Ahmadiyya Muslim Gemeinde zur Zeit (2003) acht Moballighs.
Zu den Aktivitäten der Gemeinde zählen neben monatlichen Versammlungen in den lokalen Gemeinden auch Ausflüge, Pickniks, Reisen, Sportturniere sowie Informations-Veranstaltungen, zu denen Freunde, Bekannte und die allgemeine Öffentlichkeit eingeladen werden. Nach den großen Feiertagen des Islams werden vielerorts ebenfalls Bürgerinnen und Bürger zu Festessen eingeladen.
Eine Besonderheit der Gemeinde ist der interreligiöse Dialog, bei dem Vertreter des Christentums, Judentums, Buddhismus etc. gebeten werden, zu einem vereinbarten Thema ohne jegliche Scheu einen Kurzvortrag zu halten, dem dann ein Co-Referat durch einen Vertreter des Islams folgt. Nach einer Erfrischungspause wird dann in großer Runde diskutiert. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch der „Tag der offenen Moschee“, der seit einigen Jahren von der Ahmadiyya Muslim Jamaat begangen wird, womit sie sich einer Initiative angeschlossen hat, die bundesweit für eine Öffnung von Moscheen für Besucher am 3. Oktober eintritt. In die Nuur-Moschee Frankfurts kamen beispielsweise im Jahr der Attentate auf Zentren der USA über 400 Besucher.
Ein Höhepunkt des Gemeindelebens ist die große Jährliche Versammlung (Jalsa Salana), zu der sich in den letzten Jahren stets etwa 30.000 Besucher auf dem Maimarkt-Gelände in Mannheim einfanden. Zu diesem religiösen Fest der Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit kommt üblicherweise auch der Kalif der Gemeinde angereist. Neben dieser Jalsa Salana, die für alle Ahmadis sowie Gäste offensteht, organisieren die Unterorganisationen auch ihre eigenen regionalen und nationalen Versammlungen, zu denen ebenfalls tausende anzureisen pflegen.
Diese Feste sehen neben gemeinsamen Gebeten, und im Falle der Versammlungen der Unterorganisationen geistigen und sportlichen Wettbewerben, vor allem auch Ansprachen von Gelehrtinnenund Gelehrten vor, die vom gemeindeeigenen Fernsehteam aufgezeichnet und bisweilen auch live vom in London ansässigen Sender der Gemeinde, Muslim Television Ahmadiyya International (MTA) ausgestrahlt werden. MTA sendet 24 Stunden täglich und ist weltweit zu empfangen. Die Station wurde vom 4. Kalifen der Gemeinde, Hazrat Mirza Tahir Ahmad, ins Leben gerufen, sie bringt ausschließlich Programme: Reden, Diskussionen, Frage-und-Antwort-Veranstaltungen, Gedichtvorträge, Quran-Rezitation, Sprachlehrstunden, aber auch Übertragungen von sportlichen Ereignissen, Kochanleitungen und Reiseberichte. Die Freitagsansprache des Kalifen wird live übertragen und simultan in etliche Sprachen, darunter auch Deutsch, übersetzt. Täglich bringt MTA auch ein deutschsprachiges, einstündiges Programm.
Um ihren Mitgliedern Gebete und Versammlungen auf lokaler Ebene in würdevoller Umgebung zu ermöglichen, hat der 4. Kalif auch einen Plan ausgerufen, durch den im Lauf der Jahre Dutzende von Moscheen erbaut werden sollen. Somit ist es bereits möglich geworden, eine ganze Reihe von kleinen Moscheen zu errichten, bzw. Grundstücke für Moscheen zu kaufen. Zusammen mit den Gotteshäusern, die schon seit Jahren in Hamburg, Köln, Frankfurt, bei München und in Berlin unterhalten werden, kann die Ahmadiyya Muslim Jamaat rund 12 Moscheen ihren Mitgliedern und allen, die beten wollen, zur Verfügung stellen. Gotteshäuser gibt es inzwischen auch in Wittlich (bei Trier), Groß-Gerau, Darmstadt, Bremen, Münster, Osnabrück und Wabern (bei Kassel). In Hannover, Schlüchtern (Hessen) und etlichen anderen Orten sind die Planungen bereits weit gediehen. Zusätzlich hat die Ahmadiyya Muslim Jamaat an über 70 Orten kleinere Gebetszentren (Wohnungen etc.) angemietet oder gekauft.
Das Zentrum der Ahmadiyya Muslim Jamaat in Deutschland e.V. befindet sich in Frankfurt am Main (Genferstr. 11). Es ist ein großräumiger Gebäudekomplex, in dem die Verwaltung untergebracht ist, das Planungsbüro für die Moscheenbauten, sowie der Verlag Der Islam, das Auslieferungslager des Verlags, das Fernsehstudio und Gebetsräume.
Mit rund 30.000 aktiven Mitgliedern (von den Schlafenden zu schweigen) ist sie eine der großen islamischen Gemeinden in Deutschland. Dazu ist zu bemerken, dass von den über 3 Millionen Muslimen, die Deutschland beherbergt, nur etwa 10 – 15% auch organisiert ist. Nach einer Erhebung des Islam-Archivs Deutschland (Soest) vom Frühjahr 2003 können von den etwa 3.112.000 Muslimen in Deutschland nur 309.000 Organisationen zugeordnet werden.
Eine der bekanntesten Gruppierungen ist die DITIB (Türkisch Islamische Union der Anstalt für Religion), die dem Religionsministerium der Türkei unterstellt ist, das auch die Entsendung von Hodschas (Geistlichen) organisiert. Sie werden für etwa 3 Jahre nach Deutschland entsandt. Der DITIB werden etwa 118.000 Mitglieder zugerechnet. Sie unterhält insgesamt 116 „klassische“ Moscheen, also Gebäude, die als Moschee erkenntlich sind.
Der sogenannte „Islamrat“ ist zwar mit 136.000 Mitgliedern größer als DITIB, aber er ist nur eine Dachorganisation, die verschiedene Verbände versammelt. Zu ihnen zählt Milli Gorüs (IGMG), eine stark politische ausgerichtete Gruppierung, die eng mit Politikern aus der Türkei verbunden ist und der der Geruch der Militanz anhaftet. Sie stand bislang im Visier des Verfassungschutzes, indes gibt es in ihr starke Bestrebungen, sich der deutschen, politischen Realität gegenüber zu öffnen.
Zu den anderen Organisationen zählt die orthodoxe türkische Nurculuk Vereinigung und der „Zentralrat der Muslime“, sowie, wenngleich in geringerem Maße, was konkrete Arbeit betrifft, die sogenannte IRH (Islamische Religionsgemeinschaft Hessen).
Der Zentralrat der Muslime hatte nach den Ereignissen vom 11. September eine gewisse Berühmtheit erlangt, als ihr Vorsitzender, Elyas, von Politik und den Medien hofiert wurde. Dies vielleicht auch deswegen, weil der Name dieses Zusammenschlusses verschiedener Vereinigungen sehr symbolkräftig ist und eine Ähnlichkeit mit dem „Zentralrat der Juden“ aufweist, der ja allgemein als Ansprechpartner, was die jüdische Religion betrifft, angesehen wird. Indes sind im Sommer 2003 erhebliche Zweifel am Image des Zentralrates, vor allem an dem seines Vorsitzenden, in den Medien laut geworden, weil Untersuchungen ergeben hätten, dass Elyas Verbindungen zu radikalen saudi-arabischen und anderen Gruppierungen habe, die seine politische Unbedenklichkeit, was eine Absage an Gewalt und eine Anerkennung des Rechtsstaates betrifft, in Frage stellten. Auch die beiden Großkirchen haben Bedenken an einem gewissen Anspruch des Zentralrats geäußert, für die in Deutschlöand lebenden Muslime sprechen zu können.
Bekannt geworden ist der Zentralrat der Muslime auch durch die Veröffentlichung einer sog. Islam-Charta, die ein Gegenstück zur UN-Charta der Menschenrechte darstellen soll. Jedoch ist diese Islam-Charta auch heftiger Kritik, sowohl durch kirchliche als auch islamische Verbände unterzogen worden, weil sie in bestimmten Kernfragen allzu schwammig formuliere. Eines aber ist in ihr hervorzuheben. Sie bekennt sich freimütig zur uneingeschränkten Religionsfreiheit, also auch dem Wechsel von einer Religion zu einer anderen. Dies war bislang in dieser Offenheit von einem orthodoxen islamischen Verband noch nicht geäußert worden, weil man in solchen Kreisen bislang an der mittelalterlichen Vorstellungen klebte, dass der Übertritt eines Muslims in eine andere Religion als Abfall vom Glauben zu brandmarken und mit dem Tode zu bestrafen sei. Die Ahmadiyya Muslim Jamaat hat immer klar darauf hingewiesen, dass der Heilige Quran, die Grundlage für die Scharia, also die islamische Rechtssprechung, völlige Religionsfreiheit garantiert. So heißt es in Sure 2 Vers 257: „In Glaubensdingen darf es keinen Zwang geben“, und in Sure 18 Vers 30: „Laß den gläubig sein, der will, und den ungläubig sein, der will“, von vielen anderen Versen abgesehen, die gleiches bekunden. In diesem Sinne ist die Gewährung von Glaubensfreiheit durch die Islam-Charta eine bemerkenswerte Neuheit unter den zeitgenössischen Vorstellungen von Geistlichen des Islams.
Von ihrer Medienpräsenz abgesehen, ist der „Zentralrat der Muslime“ eher eine kleine und im Gesamtspektrum des Islams in Deutschland relativ unbedeutende Gruppierung. Er hat, nach Aussage des Islam-Archivs, nur 12.000 Mitglieder. Dass ihm von dpa eine Mitgliederzahl von 800.000 nachgesagt wurde, hat der „Zentralrat der Muslime“ am 25. März 2002 selbst dementiert. Entsprechend einer Ausgabe des Wochenspiegels der epd (evangelischen presse agentur) vom 1. August 2002 hat er etwa 20.000 Mitglieder, die in 500 Moschee-Gemeinden und 19 Verbänden organisiert sind. Seine Bedeutung hat er, wie bereits angedeutet, erlangt, weil er und sein Vorsitzender von einigen Politikern und Medien zum Repräsentanten des Islams in Deutschland schlechthin gekürt wurden. Dies aber spiegelt nicht die Realität muslimischen Lebens in Deutschland wider.
Andererseits kennzeichnet dieser Umstand eine Schwierigkeit, die immer wieder von Regierungsvertretern, den Kirchen und anderen Verbänden beklagt wird: dass es für die 3 Millionen in Deutschland lebenden Muslime nicht eine übergreifende Instanz gibt, mit der man sich auseinandersetzen könnte. In der Tat gibt es weder für die Sunniten, noch für die Schiiten jeweils eine, einzige Persönlichkeit, oder zumindest eine Institution, die von allen Sunniten bzw. Schiiten anerkannt würde. Hierzulande ist man es aber gewohnt, auf einer Ebene miteinander zu reden bzw. zu verhandeln, die eine allgemein akzeptierte Repräsentanz voraussetzt.
Dieses Denkschemata hat dem „Zentralrat der Muslime“ zu einer gewissen Blüte verholfen. Realität ist jedoch, dass solch eine Repräsentanz nicht existiert. Hand in Hand mit diesem Umstand geht die Tatsache, dass die jeweiligen Gruppierungen voneinander unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich bestimmter religiöser Fragen haben. Während, zum Beispiel, orthodoxe Muslime glauben, dass Allah die Welt vor etwa 6000 Jahren aus dem Nichts heraus geschaffen hat, leiten aufgeklärte Muslime aus dem Heiligen Quran ab, dass seine Lehre in Übereinstimmung mit der weithin anerkannten wissenschaftlichen Theorie steht, dass vor etwa 18 Milliarden Jahren das Universum durch einen Urknall (Big Bang) zu existieren begann.
Die Evolutionstheorie ist also ein Streitpunkt der Theologen verschiedener islamischer Schulen. Ähnlich kontrovers werden viele Verse des Heiligen Qurans diskutiert. Grundsätzliche Gegensätze gibt es hinsichtlich der Frage, ob bestimmte Verse, etwa die über die Beschaffenheit von Paradies und Hölle, über die Himmelfahrt des Propheten, seine Reise nach Jerusalem in einer Nacht, buchstäblich und wortwörtlich, oder im metaphorischen Sinne zu interpretieren seien.
Besondere Bedeutung hat auch die Frage nach dem Schicksal von Jesus, ob er tatsächlich gekreuzigt wurde oder nicht, ob er noch lebt oder auf Erden gestorben ist, indes nicht am Kreuz. Und vor allem, wie die Prophezeiungen des Heiligen Propheten Muhammad, Segen und Frieden Allahs seien auf ihm, zu verstehen ist, in denen von der Wiederkunft Jesu die Rede ist, vom Mahdi und vom Dajjal (Anti-Christen). Hinzu kommen verschiedenartige Vorstellungen über die Beschaffenheit der Dschinn, von denen im Quran in verschiedener Bedeutung die Rede ist. Sind es nun tatsächlich Geister, oder aber wird mit diesem Wort nur ein außergewöhnliches Verhalten gewisser Menschen zum Ausdruck gebracht ?
Die Meinungen zu diesen Fragen gehen weit auseinander, wenngleich ein inner-islamischer Dialog, eine Debatte, dazu so gut wie nicht geführt wird, was äußerst bedauernswert ist und zeigt, wie sehr die islamischen Organisationen sich in Isolation zu begeben wünschen, was ein Zeichen von großer Schwäche ist. Zeitschriften, die von Muslimen herausgegeben werden, etwa die „Islamische Zeitung“, die sogar im Bahnhofsbuchhandel erhältlich ist und monatlich erscheint, oder „Al-Islam“, die der in einer Münchner Moschee tätige Deutsche Ahmad von Denffer vierteljährlich herausgibt, sparen Diskussionen zu solchen brisanten Themen aus.
Und selbst im Internet, wo die Gelegenheit zur freimütigen Auseinandersetzung doch gegeben sein müßte, werden Gespräche hierüber von den orthodoxen Betreibern, zum Beispiel dem „Haus des Islams“, das auch Treffen deutschsprachiger Muslime (TDM genannt) organisiert, abgeblockt bzw. verhindert.
Eine Ausnahme bildete die Website „Islam Today“, die von Mitgliedern der Ahmadiyya Muslim Jamaat gestaltet wurde, auf der im Verlauf von 3 Jahren über 3000 Fragen aus allen erdenklichen Schichten der Bevölkerung eingingen, gerade auch von muslimischer Seite. Hier war es möglich, selbst sehr heikle Fragen offen zu besprechen, und dies in einer Freimütigkeit, die im gesamten muslimischen Bereich unseres Landes ihresgleichen sucht.
In diesem Zusammenhang sei auf die seit Jahren geführte Diskussion hingewiesen, ob ein islamischer Religionsunterricht an den Schulen eingeführt werden müsse. Indes haben sich Vertreter von Kirchen und Politik bislang fast ausschließlich mit den Formalien beschäftigt, und nicht mit den Inhalten, die zu lehren wären. Angesichts der Tatsache, dass der überwiegende Teil der Muslime in Deutschland stark konservativ und orthodox ausgeprägt ist und somit in den Augen fortschrittlich denkender Muslime zum Teil recht abergläubische Vorstellungen bezüglich der Interpretation gewisser Quran-Verse, wie bereits ausgeführt, hegt, ist aber nicht davon auszugehen, dass das Hauptargument der Verantwortlichen von Gesellschaft, Kirche und Staat trifft. Es besagt, dass mit Hilfe des Islam-Unterrichtes an den Schulen den argwöhnisch beäugten Quran-Schulen an den Moscheen entgegengewirkt werden könne. Tatsächlich aber würde, wenn denn die an Universitäten auszubildenden Islam-Lehrer einen vernunftgemäß argumentierenden Islam zu lehren begännen, das Mißtrauen seitens der orthodoxen Hodschas und Imame extrem wachsen, die den staatlich verordneten Islam-Unterricht als Gefahr für ihre Glaubensvorstellungen ansehen würden.
Ergebnis einer solchen Konfrontation wäre, dass entweder muslimische Eltern ihre Kinder nicht zum Islam-Unterricht schicken würden (was gesetzlich ja möglich ist), oder aber dass die Hodschas Front gegen den Schul-Unterricht machen würden. Dadurch aber würde der Indoktrination im schlechten Sinne Tor und Tür geöffnet. Es käme nicht zu einer Integration, sondern zu Ghetto-Verhalten, Isolierungskampagnen oder aber Heuchlerei.
Und wem wäre damit geholfen ? Die Lösung für das so produzierte Dilemma liegt, denke ich, in einem allgemeinen Ethik-Unterricht, der die Schönheit moralischen Lebens aus den Perspektiven aller Religionen verständnisvoll lehren müßte. Dies würde sich als Maßnahme der Friedensstiftung erweisen und hitzige Kontroversen unterbinden. Das Hessische Kultusministerium ist in dieser Hinsicht als Vorreiter aktiv geworden und hat einen Beirat zur Ethik des Islams im Ethik-Unterricht einberufen, dem neben Schulfachkräften auch Vertreter unterschiedlicher islamischer Gruppierungen angehören.
Aber zurück zur Darstellung der wichtigsten islamischen Organisationen in unserem Lande. Neben DITIB, dem Islamrat (d.h. vor allem Milli Gorüs), dem Zentralrat und der Ahmadiyya Muslim Jamaat muß noch auf die Nurculuk Vereinigung eingegangen werden, die sich auf einen einst in der Türkei predigenden Hodscha beruft, der als Reformer verehrt wird. Nurculuk umfaßt ca. 12.000 Mitglieder, die in 12o Medresen (Schulmoscheen) unterwiesen werden.
Eine weitere große Organisation ist der Verband Islamischer Kulturzentren, er hat etwa 20.000 Mitglieder und nennt zwei Moscheen sein eigen, zudem unterhält er 6 Internate.
Neben diesen größeren Gruppierungen existieren in Deutschland ungezählte, sogenannte „freie“ islamische Vereinigungen oder Moschee-Vereine, die sich nicht gebunden fühlen an eine der großen, genannten Richtungen. Das Islam-Archiv erwähnt dazu, dass in ihnen weitgehend ein „moderner“ Islam gepredigt würde, was wohl auch eine gewisse Abkehr von manchen Normen bedeutet, die ursprünglich durch das vorbildliche Leben des Heiligen Propheten Muhammad, Segen und Frieden Allahs seien auf, gesetzt wurden.
Ein Sonderfall ist die sogenannte IRH, ein Zusammenschluß von 25 Moschee-Vereinen und Organisationen, die vor allem zum Zweck der Einführung eines islamischen Religionsunterrichtes in Hessen gegründet worden war. Anfangs sehr aktiv und an Mitgliedern (es werden rund 11.000 genannt, die alle in Hessen wohnen) stark, sorgte die „IRH“ für Präsenz an den Universitäten und anderen Orten, zum Beispiel indem sie dort die Zeitschrift „Freitagsblatt“ verteilte oder verkaufte. Eine der ersten Aktivitäten dieser Gruppierung bestand darin, die Alewiten und die Ahmadiyya-Muslime zu Ungläubigen (Kafir) zu erklären. Die Ahmadiyya Muslim Jamaat hat darauf mit dem Buch „Wer sind die Ungläubigen ?“ geantwortet, in dem jeder einzelne Punkt, den die Repräsentanten der „IRH“ als Beweis oder Grund für den Ausschluß in einem Papier angegeben hatten, widerlegt wurde. Der eigenmächtige Ausschluß, für den es eigentlich im Islam keine Rechtfertigung gibt, verursachte jedoch auch den Widerstand von Politikern, die der Bemühung der „IRH“, als Repräsentant der Muslime in Hessen anerkannt zu werden und somit berechtigt zu sein, Islam-Unterricht zu erteilen, eine Abfuhr erteilten. Das Hessische Kultusministerium gab einige Gutachten zur „IRH“ in Auftrag und beschied in der Folge den Antrag auf Erteilung von Religionsunterricht abschlägig. Derzeit, also im August 2003, klagt die „IRH“ dagegen, ohne dass dies Erfolg verspricht. Als Institution war sie überdies wegen ihrer reaktionären, an mittelalterlichem Denken festhaltenden Auffassungen in den Medien ins Gerede gekommen. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Kapitels spielt die „IRH“ in Hessen zumindest in der Öffentlichkeit so gut wie keine Rolle mehr. Und ihre Aktivitäten sind ziemlich erloschen. So war schon vor einiger Zeit sang- und klanglos ihre Zeitung „Freitagsblatt“ eingestellt worden und Presseerklärungen oder Stellungsnahmen zu aktuellen Ereignissen sind seit langem nicht mehr von ihr veröffentlicht worden.
Zu den eben erwähnten Alewiten sei gesagt, dass sie selbst sich als Muslime fühlen, während sie jedoch grundlegende Gebote des Islams für nicht mehr gültig erklärt haben. Sie gründen auf den Ideen eines Derwischs, halten jedoch nicht länger an der Pflicht aller Muslime, die täglichen Gebete zu verrichten, fest, und auch das Fasten im Monat Ramadan hat für sie keine Bedeutung mehr. Nach eigenen Angaben zählen sie über 600.000 Mitglieder, manche von ihnen sprechen gar von etwa 1 Millionen Alewiten in Deutschland. Das Islam-Archiv gibt ihre Anzahl mit etwas über 400.000 an.
Die Zahl der hierzulande wohnenden Schiiten berechnet es mit 622.000, sie haben mit der Ali-Moschee in Hamburg ihr bekanntestes Zentrum, von dem aus auch die deutschsprachige Zeitschrift „Al-Fadschr“ herausgegeben wird. An Sunniten sieht das Islam-Archiv in seiner Erhebung vom Frühjahr 2003 rund 2.490.000 Muslime. Unter allen Muslimen haben 732.000 einen deutschen Paß, und 12.400 von ihnen sind deutschstämmig, also Konvertiten oder Kinder von Konvertiten. Das Islam-Archiv berichtet im Frühjahr 2003 zudem, dass es 2002/2003 insgesamt nur 412 Übertritte zum Islam gegeben habe, darunter 63% Frauen.
Im Gesamtüberblick gibt es für all diese Muslime in Deutschland derzeit rund 2.380 Versammlungs- und Bethäuser, zudem 141 „klassische“ Moscheen, also Gotteshäuser, die auch äußerlich als muslimische Gebetsstätten erkennbar sind. Hinzuzuzählen sind noch die 120 Medresen (Schulmoscheen) der Nurculuk-Vereinigungen, 6 Internate und etwa 150 Bildungsstätten der Gruppe der Gülen-Nurculuk. Darüberhinaus befanden sich im Frühjahr 2003 weitere 154 Moscheen „klassischer Art“ im Bau.
Gegen solche Bauvorhaben richten sich oftmals Bürgerinitiativen, in denen rechtsextreme Kräfte häufig tätig sind. Die verantwortlichen Politiker in den Städten, in denen Muslime eine Moschee bauen möchten, verhalten sich unterschiedlich. Ein CDU-Bürgermeister aus der bei Frankfurt gelegenen Kleinstadt Oberursel indes hat sogar gesagt: „Solange in Mekka keine Kirche steht, wird es in Oberursel keine Moschee geben“. Andererseits beweisen viele Bürgermeister und Stadtparlamente Weitblick.
In Hannover, beispielsweise, waren die Regierenden für den Bau einer Moschee, die die Ahmadiyya Muslim Jamaat errichten wollte. Einem Bürgerbegehren zu Folge lud man dann fünf Experten vor den Bauausschuß, der darüber zu beschließen hatte, ob man trotz des bereits seitens der Stadt der Gemeinde verkauften Grundstückes den Bebauungsplan ändern solle. Nach Anhörung von Für und Wider wurde dann im Sinne einer Bebauungserlaubnis sowohl seitens des Bauauschusses, als auch des Stadtparlamentes votiert.
Im oberhessischen Schlüchtern hingegen gab es ein zähes und mehrjähriges Ringen um den Bau einer Moschee, gegen den sich ein rechtsgerichtetes Bündnis stark machte, das sogar die Parole „Schlüchtern bleibt Moscheenfrei“ ausgab, die fatal an den Nazispruch, das diese oder jene Stadt judenfrei sei, erinnerte. Fernsehen und Zeitungen nahmen sich des Falles an, der letztlich mit einem Sieg der Ahmadiyya Muslim Jamaat endete, als eine knappe Mehrheit der zur Bürgerbefragung aufgerufenen Schlüchtener dem Moschee-Projekt zustimmte. Aber Meldungen von derartigen Bürgerinitiativen, die durchaus fremdenfeindliche Züge aufweisen, sind immer wieder zu lesen, und es scheint manchen Bürgern nicht in den Kopf zu gehen, dass es auch in Deutschland so etwas wie eine vom Grundgesetz garantierte Religionsfreiheit gibt.
Eine Abwehrhaltung gegenüber Muslimen, ja, ein Haß auf den Islam und eine Angst vor dem Islam ist vermehrt seit den Ereignissen vom 11. September zu spüren. Dazu haben manche Medien nicht gerade wenig beigetragen. Im Entsetzen vor den Terror-Anschlägen wurde selten Ausgewogenheit gezeigt und zwischen friedliebenden Muslime, die sich der Verhaltensweise des Heiligen Propheten verpflichtet fühlen, und Terroristen, die eben diese Verhaltensweisen pervertieren, oftmals kein Unterschied gemacht. Bemühungen, die Schönheit der eigentlichen islamischen Lehre darzustellen, waren selten zu verzeichnen. Stattdessen wurden Quran-Zitate aus dem Zusammenhang gerissen und als Beispiel für einen angeblichen mörderischen Kampfbefehl des Islams, alle „Ungläubigen“ zu töten, in Schlagzeilen präsentiert.
Sieht man sich jedoch diese Zitate genau an, d.h. überprüft man, in welchem Zusammenhang sie im Heiligen Quran stehen, kann man feststellen, dass sie alles in allem dem entsprechen, was der Auftrag jeder Armee eines Staates ist, der die Freiheit seiner Bürger bewahren will.
Es ist zu befürchten, dass die meisten jener Journalisten oder Politiker, die mit solchen Zitaten Angst einflößten, gar nicht im Heiligen Quran nachgesehen haben, sondern willig gewissen Leuten nachplapperten, die, aus welchem dunklen Grund auch immer, die segensreiche und friedensstiftende Botschaft des Islams hassen, oder sie zumindest nicht verstehen.
Bei allen Warnungen vor der Gefahr, die vom Islam, bzw., wie man neudeutsch zu sagen pflegt, den Islamisten ausgehe, wird leider meist übersehen, dass Kenner des islamischen Spektrums in Deutschland und auch der Welt von höchstens 1% militanter Muslime reden. Indes beherrscht die öffentliche Meinung ein Bild vom mit Feuer und Schwert auftretenden Anhänger des Heiligen Propheten Muhammad, Segen und Frieden Allahs seien auf ihm. Dieses Bild jedoch ist seit Jahrhunderten im Westen gepflegt worden. Man benötigt häufig offensichtlich ein Feindbild und will dabei zu gerne übersehen, welche Schreckenstaten auch schon im Namen Jesu begangen worden waren: Von den Kreuzzügen über die Inquisition und die Hexenverbrennungen bis hin zur Ausrottung der Inkas und der Indianer.
Sicherlich ist es zutreffend, dass manch ein Machthaber aus islamisch beeinflußten Ländern sich nur allzugerne die Massen gefügig zu machen suchte, indem er sie zu einem „Jihad“ aufrief, einem blutigen Kampf gegen tatsächliche oder angebliche Feinde des Islams. Aber in unseren Tagen, in denen es leicht ist, sich Aufklärung über die wirklichen Umstände solcher kriegerischen Auseinandersetzungen zu verschaffen, müßte doch verständlich geworden sein, dass die Lehre des Heiligen Qurans nur besagt, dass gegen jene, die die Freiheit abschaffen wollen, ein Verteidigungskampf erlaubt ist, eben ein Jihad (d.h. eine Anstrengung im Namen Allahs). Nicht aber, dass willkürliche Aggression, um der Macht oder der Beute willen, ein Gebot Allahs ist.
Aber die Diskussion um den Islam entzündete sich nach dem 11. September nicht nur am Jihad, sondern an vielen anderen Fragen außerdem. Zum großen Teil wurde die Debatte äußerst irrational geführt. Mißverständnisse oder ersichtlich falsche Interpretationen etwa über das, was der Islam zur Position der Frau im Islam sagt, waren an der Tagesordnung. Und es gab nur wenige Artikel in den Zeitschriften und Zeitungen, die in der Lage waren, einigermaßen die Philosophie des Islams zu erklären.
Kaum eines der Medien bemühte sich darum, von sachkundigen Muslimen selbst Erklärungen zu den umstrittenen Punkten zu erhalten. Einseitigkeit triumphierte weitgehend. Und üble Beleidigungen des Glaubens der Muslime durch Politiker oder Schriftsteller blieben nicht aus. Die angeblich freie Presse wollte zumeist jene Meinungen nicht zur Kenntnis nehmen, die in der Lage gewesen wären, dazu zu verhelfen, den Islam zu verstehen. Man ergab sich vielmehr einer Anti-Haltung.
Kurzum, die Masse an Artikeln und Büchern zum Thema Islam, die seit den Angriffen auf das Pentagon und das WTC publiziert wurde, trug nicht viel dazu bei, Frieden zu stiften, Verständnis zu erwecken und Brücken zu bauen. Ein aufkeimender Dialog zwischen Christen und Muslimen wurde durch Aufsätze im „Spiegel“ und anderen Zeitschriften sogar so brutal niedergewalzt, dass man sich fragen mußte, wer eigentlich ein Interesse daran hatte, ein Sich-Kennen-Lernen, ein Voneinander-Lernen zu verhindern.
Neben derlei Ungereimtheiten ist aber auch zu bemerken, dass es vielerorts eine Gelassenheit, ja sogar Unbefangenheit zu beobachten gibt, was den Umgang mit Muslimen betrifft. So suchen häufig Lehrerinnen und Lehrer Kontakt mit Moscheen, um ihre Schülerinnen und Schülern durch einen Besuch im Gotteshaus der Muslime aus erster Hand mit dem Islam bekannt zu machen. An den Informationständen, die beispielsweise die Ahmadiyya Muslim Jamat in vielen kleinen und großen Städten regelmäßig aufstellt, finden sich viele ein, die gerne Broschüren mitnehmen oder mit den Musliminnen und Muslimen, die die Stände betreuen, diskutieren möchten. Bemerkenswert ist auch die Einrichtung der Offenen Kanäle in vielen Städten Deutschlands, durch die es Bürgern, und damit eben auch Muslimen, möglich ist, ihre eigenen Fernsehsendungen über Kabel, von der Kassette oder auch Live, den Zuschauern zugänglich zu machen. Dieses Angebot wird von etlichen muslimischen Gruppierungen gerne genutzt. Einige nehmen die Gelegenheit wahr, ihre Landsleute in ihrer Muttersprache zu informieren, andere sehen die Offenen Kanäle als Chance, ihren deutschen Mitbürgern den Islam näher zu bringen. Die Ahmadiyya Muslim Jamaat, beispielsweise, engagiert sich seit Jahren in den Einrichtungen des Offenen Kanals in vielen Städten – und erntet damit Wohlgefallen seitens Deutscher, die ihr Interesse und ihre Sympathie für diesen Weg der Aufklärung und zur Ausräumung von Mißverständnissen und Vorurteilen bekunden. Vor allem in Live-Sendungen, bei denen Zuschauer im Studio anrufen und Fragen stellen können, haben viel zur Beschwichtigung der Gemüter beigetragen.
Das wichtigste Thema, das neben der Frage zur Einstellung der Muslime zu Terrorismus und Gewalttat in den letzten Jahren überall im Lande erörtert wurde, betrifft die islamischen Bekleidungsvorschriften, vor allem die sogenannte Verschleierung der Frau, beziehungsweise das Kopftuch. Die von Allah im Heiligen Quran erlassene Vorschrift, dass Frauen ihre Haare bedeckt halten müssen, es sei denn, sie haben das heiratsfähige Alter überschritten, erregt die Gemüter wie kaum ein anderes islamisches Gebot. Besonders ins öffentliche Interesse geraten ist die Auffassung, dass Frauen ihre Reize nicht zur Schau tragen sollen, um den Mänern keinen Anlaß zu unsittlichen Gedanken zu geben, seit die afghanisch-deutsche Lehrerin Ludhin vor Gerichten darum streitet, im Schulunterricht ein Kopftuch tragen zu dürfen, was ihr von Behörden Baden-Würtembergs mit dem Hinweis auf das staatliche Neutralitätsgebot in Erziehungseinrichtungen verwehrt worden war. In anderen Bundesländern indes hat man gegen Kopftuch tragende Lehrerinnen keine Bedenken.
Die Diskussion um das Kopftuch hat aber wohl vor allem psychologische Gründe, die in der Einstellung zur Sexualität zu sauchen sind.
Dass ein bewußtes Bekenntnis zur Keuschheit als Ausdruck religiöser Identität so die Gemüter erregt, ist, denke ich, wahrscheinlich im Wesentlichen dadurch zu erklären, dass seit knapp 30 Jahren allenthalben eine sexuelle „Freiheit“ propagiert wird, die sich in der Öffentlichkeit durch aufreizende Bekleidung sichtbar macht und, in den Medien, durch noch schamlosere Darstellung von sexuellen Reizen. Die meisten Menschen von heute, so scheint es, sehen in der Ausübung und Darstellung von Sexualität das höchste der Gefühle, sie haben kein Verständnis für die glückseligen Empfindungen, die der Gläubige in Ausübung seiner Religion, im Gebet oder dem Studium heiliger Schriften, erfährt.
Der Islam hingegen lehrt, dass Sexualität nicht in die Öffentlichkeit, sondern in den privaten Bereich gehört. Er verurteilt außereheliche Beziehungen, weil sie höhere Bereiche der Liebe nicht erreichen lassen und zudem zumeist dazu beitragen, dass Ehen und Familien wegen der Untreue des einen oder anderen Partners zerstört werden.
Eine solche Auffassung steht in der Tat im schärfsten Gegensatz zu den hierzulande gutgeheißenen und praktizierten Vorstellungen von Sexualität. Ein Kompromiß zwischen ihnen und der islamischen Lehre zur Funktion der Sexualität ist nicht möglich. Andererseits bleibt zu fragen, warum jene, die sich über Musliminnen aufregen, die durch Kopftuch oder Schleier kund tun, dass sie an Flirts usw. nicht interessiert sind, nicht die
Toleranz aufbringen können, den Frauen zu überlassen, wie sie sich anziehen wollen. Wenn die Würde des Menschen, wie das Gerundgesetz der Bundesrepublik Deutschland an erster Stelle verlautbart, unantastbar ist, warum dürfen dann muslimische Frauen nicht ihre Würde durch eine Bedeckung eines der größten sexuellen Reize, der Haare, wahren ? Ist es so schwer einzusehen, dass in den Augen der Musliminnen der Schleier keineswegs, wie immer wieder behauptet wird, ein Symbol der Unfreiheit ist, sondern im Gegenteil, ein Zeichen ihres Selbstwertgefühls ?
Es ist noch keine fünfzig Jahre her, seit in Deutschland eine Frau, die etwas auf sich hielt, nur mit einer Kopfbedeckung aus dem Haus ging, und für den Mann galt das Motto: „Man(n) geht nicht ohne Hut“. Meint man denn tatsächlich, dass die Verwilderung der Sitten ein Ausdruck von Moderne, also größerer Selbstverwirklichung und erhellender Bewußtseinserweiterung ist ? „Der Verlust der Scham ist der Beginn der Barbarei“, schrieb der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud. Der Islam zieht die Grenze, an der der Verlust der Scham beginnt, dort, wo Mann und Frau am deutlichsten der Verführung zum Mißbrauch der Sexualität ausgesetzt sind: im öffentlichen Leben, auf der Straße. Das Bedecken der Haare, das gemäß der Gewohnheit des Heiligen Propheten Muhammad, Segen und Frieden Allahs seien auf ihm, der nie ohne Kopfbedeckung aus dem Haus ging, auch für muslimische Männer, die sich vorbildlich verhalten möchten, gilt, das Verhüllen des auf den ersten Blick hervorstechensten Merkmals äußerer Schönheit, ist eine große Segnung. Wenn Nicht-Muslime dies nicht nachvollziehen können oder wollen, möchten wir nicht mit ihnen streiten. Indes stimmt bedenklich, dass viele von ihnen so aggressiv auf Frauen oder Männer des Islams reagieren, die sich in der Öffentlichkeit mit einer Kopfbedeckung zeigen. Für ein friedliches Zusammenleben von Muslimen und Nicht-Muslimen in Deutschland muß von beiden Seiten die Fähigkeit bewiesen werden, nicht über den anderen bestimmen zu wollen. Die vielgeforderte Integration der Muslime in die deutsche Gesellschaft kann nicht so aussehen, dass Muslime wohl begründbare moralische Grundsätze preisgeben oder aufgeben. Deutschland kann seine 3 Millionen Muslime nicht wegwünschen oder wegdenken. Es muß sich bemühen, mit diesen Menschen, die zum großen Teil als ersehnte Arbeitskräfte ins Land geholt wurden, friedlich auszukommen. Das bedeutet auch, friedliches Miteinander dadurch zu ermöglichen, dass man dem Mitbürger seine vernunftgemäße Eigenart läßt.
Islam in Deutschland, das hört sich in manchen Ohren wie ein Fremdkörper an. Bei genauerem Hinschauen aber könnten die Nichtmuslime in Deutschland viel von den Muslimen lernen. Was selbstredend auch bedeutet, dass Muslime von Nichtmuslimen dieses Landes viel lernen können. In diesem Sinne steht es Muslimen und Nicht-Muslimen in Deutschland wie auch in den anderen Teilen der Welt gut an, die Ermahnung Allahs zu beherzigen, die Er in Sure 49, Verse 12-14, an die Menschheit gerichtet hat. Seine Worte lauten:
„O die ihr glaubt ! lasset nicht ein Volk über das andere spotten, vielleicht sind diese besser als jene; noch Frauen (eines Volkes) über Frauen (eines anderen Volkes), vielleicht sind diese besser als jene. Und verleumdet einander nicht und gebet einander nicht Schimpfnamen. Schlimm ist das Wort: Ungehorsam nach dem Glauben; und wer nicht abläßt, das sind die Frevler. O die ihr glaubt ! Vermeidet häufigen Argwohn, denn mancher Argwohn ist Sünde. Und belauert nicht und führt nicht üble Nachrede übereinander. Würde wohl einer von euch gerne das Fleisch seines toten Bruders essen ? Sicherlich würdet ihr es verabscheuen. So fürchtet Allah. Wahrlich, Allah ist langmütig, barmherzig. O ihr Menschen, Wir haben euch von Mann und Weib erschaffen und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, dass ihr einander kennen möchtet. Wahrlich, der Angesehenste von euch ist vor Allah der, der unter euch der Gerechteste ist. Siehe, Allah ist allwissend, allkundig.“
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KUNO hat ein Faible für die frei drehende Phantasie. Wir begreifen die Gattung des Essays als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Auch ein Essay handelt ausschliesslich mit Fiktionen, also mit Modellen der Wirklichkeit. Wir betrachten Michel de Montaigne als einen Blogger aus dem 16. Jahrhundert. Henry David Thoreau gilt als Schriftsteller auch in formaler Hinsicht als eine der markantesten Gestalten der klassischen amerikanischen Literatur. Als sorgfältig feilender Stilist, als hervorragender Sprachkünstler hat er durch die für ihn charakteristische Essayform auf Generationen von Schriftstellern anregend gewirkt. Karl Kraus war der erste Autor, der die kulturkritische Kommentierung der Weltlage zur Dauerbeschäftigung erhob. Seine Zeitschrift „Die Fackel“ war gewissermaßen der erste Kultur-Blog. Die Redaktion nimmt Rosa Luxemburg beim Wort und versucht in diesem Online-Magazin auch überkommene journalistische Formen neu zu denken. Enrik Lauer zieht die Dusche dem Wannenbad vor. Warum erstere im Spätkapitalismus – zum Beispiel als Zeit und Ressourcen sparend – zweiteres als Form der Körperreinigung weitgehend verdrängt hat, ist einer eigenen Betrachtung wert. Ulrich Bergmann setzte sich mit den Wachowski-Brüdern und der Matrix auseinander. Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie ein weitere Betrachtungen von J.C. Albers. Last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.
Im Blick auf den Geistreichtum eines guten Essays kann man den Essay als den großen Bruder der Twitteratur auffassen.