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Will man den Weg verstehen, auf dem die heute unter dem Schlagwort Pangermanismus vereinigten Tendenzen zu jener furchtbaren Macht gelangten, die alle Welt kennt und verspürt, so muß man zurückgehen bis ins tiefe Mittelalter. In dem mittelalterlichen Kampf um die Suprematie zwischen geistlicher und weltlicher Macht, zwischen einer geistigen Oberleitung durch den Papst und der tobsüchtigen Wildheit barbarischer Könige spielten sich die ersten Entscheidungen europäischer Geschichte ab. Als Otto I. sich im Jahre 962 vom Papste die Kaiserkrone erzwang, entstand das »Heilige Römische Reich Deutscher Nation«. Unter Otto III. gab es bereits einen deutschen Papst, kaum daß es ein deutsches Volk gab. Es folgten die Kreuzzüge, in denen die Päpste der übermütigen Barbarenkraft und den verheerenden Einfällen deutscher Könige nach Italien eine phantastische Ablenkung schufen. Es folgte die Unterwerfung des geschwächten Staates unter die Kirche durch Gregor VII.
Der päpstlich-kaiserliche Universalstaat des Mittelalters leitete eine innige Verbindung der deutschen Völkerschaften mit dem zivilisiertesten Lande der damaligen Welt, Italien, ein, und wenn die gewaltsamen deutschen Könige auch, sobald sie den Segen empfangen hatten, nur Richtschwert und Vollstrecker des römischen Willens geworden waren, so verlieh ihnen diese Weihe noch die »Kulturmission«, Mehrer des Kirchengebiets und Verbreiter des Evangeliums zu sein, und damit jene heraldische Attitüde einer von Reichstrompetern begleiteten theologischen Majestät, der die buntbäurische Phantasie des deutschen Volkes noch heute nicht gewachsen ist. Jahrhunderte lang verbreitete das Schwert der Kaiser den Christenglauben, wie es unter Muhamed den Islam verbreitet hat. Und nicht erst heute, sondern schon zu Gutenbergs Zeiten findet sich in der Presse die optimistische Überzeugung, die deutsche Nation sei von Gott bevorzugt und von der Vorsehung auserwählt. Sie war aber nur von den Kardinälen auserwählt und vom Papste bevorzugt. Die deutschen Könige hatten sich ihre Stellung durch Bluttat und Gewalt ertrotzt. Ihre Kulturleistungen blieben weit hinter dem zurück, was gleichzeitig Arabien, Spanien und Italien in Kunst, Literatur und Wissenschaft leisteten.
Noch heute sehen unsere deutschen Schulräte, Geschichtsschreiber und Pädagogen nicht ein, daß keine Veranlassung vorliegt, auf diese Tradition besonders stolz zu sein. Deutschland war keineswegs das »moralische Herz der Welt«, wie Herr Scheler glauben machen will. Die Moralität war in Deutschland, von vereinzelten Mystikern und Troubadouren abgesehen, unausgebildet, abseitig und grob. Das Land war Rüstkammer und Arsenal für die weltlichen Ziele des Papsttums. In solchen Ländern ist wenig Raum für die Ausbildung verfeinerter Sitte. Profoss und Schrecken brachten den Päpsten die Barbarossas, Ottos und Friedrichs. Wen deshalb der Papst zum Kaiser salbte, dem legte er damit die Verpflichtung auf, daß solch »apostolische Majestät« – noch heute trägt der Kaiser von Österreich den Titel – den gewaltigen europäischen Kirchenstaat vergrößere oder verteidige, auf welche Art immer es geschehe.
Das »Heilige Römische Reich Deutscher Nation« wurde von Luther zerstört. Luthers robust gewaltige Persönlichkeit ist geschichtlich nur zu verstehen, wenn man den Kampf zwischen Kaiser und Papst sich vergegenwärtigt. Luther trennte Deutschland von Rom und schuf damit die Voraussetzung für die Unabhängigkeit des heutigen deutschen Feudalismus. Er lieferte den deutschen Fürsten und Reichsherolden wie Treitschke und Chamberlain die Ideologie für jene egozentrische Selbstüberhebung, die sich in den Köpfen alldeutscher Generäle und Subalternpropagandisten zu einem Delirium ausgewachsen hat. Von den Zeiten der Reformation an gelang es den Päpsten nicht mehr, die deutsche Macht unter eine geistige Obhut zu beugen. Luther wurde ein Angelpunkt der Geschichte.
Von Luther an beginnt sich ein neuer Universalstaat vorzubereiten, in dessen Zentrum nicht mehr die ganz klerikale, sondern die ganz profane Gewalt steht. In den großen Bauernkriegen von 1524/25 handelte es sich darum, ob die uralte Feudaltradition Deutschlands gebrochen werden könne oder nicht. Jene deutsche Revolution (wichtiger heute als die Reformen, in denen sie erstickt wurde) mißglückte. Der Feudalismus erhob sich gestärkt. Im Aufkommen der Hohenzollern verjüngte er sich. Das Aufkommen der Hohenzollern brachte den Konkurrenzkampf mit Habsburg, dem letzten Rudiment des mittelalterlichen Systems. Dazumal gingen die geistlichen und weltlichen Methoden der Universalstaats-Politik und -Diplomatie von Wien in die preußischen Kabinette über. Und heute erleben wir, wie derselbe auf die Besitzlosen, das Proletariat, gegründete Universalstaat des Mittelalters von Berlin aus wiederaufzustehen bemüht ist.
Jetzt ist es umgekehrt. Das kaiserliche Regime sucht den Papst (und die Freiheitsideologie, die geistige Macht) zu benützen, wie im Mittelalter der Papst den Kaiser ausspielte. Steuerte Habsburg die diplomatischen Methoden bei, so Robespierre die staatlichen und Napoleon die militärischen. Eine satanische Macht regiert heute Deutschland und sucht sich von dort aus die Welt zu unterwerfen. Das Mittel ist Zweck geworden. Die Profanität triumphiert, und eine Entwertung aller Werte findet statt, die niemals ihresgleichen sah.
Als Dante seine Schrift »De monarchia« schrieb, ließ er sich kaum träumen, daß er die Hölle selbst damit begünstigte. Gott ist Werkzeug der Monarchie geworden. Moral und Religion sind der omnipotenten Staatsgewalt untergeordnet. Und die Folge dieser Perversion der Moralbegriffe ist, daß man die teuflischsten Dinge im Namen Gottes verherrlicht, ohne jegliches Gefühl und Gewissen für die Inferiorität dieses Evangeliums der reinen Kraft und Gewalt.
Jede Art Mystik, jede Art Religion, jede Regung des Seelenlebens und der menschlichen Sehnsucht, alles, was dem Menschen heilig ist, wird von diesem System in raffiniertester Weise benützt, um den Menschen zu fassen und gefügig zu machen. An die Stelle des Ablasses ist der Aderlaß getreten. An die Stelle der Ohrenbeichte die Detektivpolizei. Die großen moralischen Werte der Menschheit (Seele, Friede, Vertrauen; Achtung, Freiheit und Glauben) werden nach dem Erfolg berechnet und als Mittel zur Erreichung von Zwecken ausgespielt, die der traditionellen Bedeutung dieser Worte entgegengesetzt sind. Das klerikale Collegium der propaganda fide ist ersetzt von einem journalistischen de propagando bello, und die Freude und der Stolz, mit denen man diesem verwerflichen System dient, geben die Beleuchtung zu einem infernalischen Totentanz, in dem die Reste deutschen Wesens in Verwesung übergehen.
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Wir, die wir dieses System bekämpfen, sind gezwungen, seine Heroen zu revidieren. Mit nationalen Vorurteilen muß aufgeräumt werden wie mit individuellen. Es geht nicht an, daß noch heutzutage ein Sozialist von der Bedeutung Camille Huysmans von Deutschland als der »généreuse Allemagne de Luther« spricht. Luthers Deutschland war nichts weniger als generös. August Bebel hat in seinem »Bauernkrieg« ein Bild des damaligen Deutschlands entworfen; das Werk kann nicht nachdrücklich genug empfohlen werden. 1517 wurden durch die Tat eines politisch und geistig gleich unvollendeten Mönchs Europa und die christliche Kultureinheit zerrissen, und dieser Luther gilt heute der großdeutschen Feudalpolitik als erster europäischer Exponent ihres »divide et impera«. Heute, vier Jahrhunderte später, hieße es Europa nur dürftig zusammenflicken, wollte man den Glauben an die offiziellen Heroen und Propheten bestehen lassen.
Der Ideenstreit um eine neue Menschheit ist entbrannt, und in der Lösung der Menschheitsfrage wird auch die politische beschlossen liegen.
Die mittelalterlichen Probleme sind noch heute nicht ausgetragen. Noch fehlt Europa eine neue Hierarchie, eine Hierarchie von Geistern, fähig und stark genug, jene mittelalterliche geistliche Hierarchie zu ersetzen; eine Rangleiter der Leistungen und Vermögen, sowohl zwischen den Völkern wie zwischen den Individuen; eine unsichtbar abgestufte geistige und moralische Gesellschaft, fähig, wieder die Oberhand zu erlangen über den Satanismus der in rudimentären Einrichtungen und Formeln vereinigten Profanität, die heute ihre entsetzliche Todesorgie feiert. Dann erst wird das Mittelalter überwunden sein.
Uns Deutsche führt die Beteiligung an dieser Aufgabe, der eine Elite hervorragender Männer des letzten Jahrhunderts gedient hat, tief bis ins Mittelalter und in die Zeit Luthers zurück. Die Revision unserer intellektuellen Geschichte soll uns neue Impulse geben, und manches wird fallen müssen, an das wir glaubten und glauben gemacht wurden.
Ein neues Gut und Böse. Neue Gewissenskämpfe. Göttlich und teuflisch nicht mehr klerikales Symbol, doch deshalb beileibe nicht Hohn und Verachtung. Die Aufgabe aber dieser Hierarchie aller gutgesinnten Geister und Werke soll sein: eine Syntax der neuen Gottes- und Menschenrechte. Keine civitas dei ohne eine civitas hominum! Die neue Gemeinschaft soll dienen der Verbreitung eines Reichs aller Menschen, die eines guten Willens sind.
Wenn das Wort von der deutschen Universalität wahr ist, so mögen die Deutschen herauskommen aus ihrem politischen Getto, um zu zeigen, was sie zu sagen haben. Nicht aber mit der Trägheit prügelnder Waffen, sondern mit der Energie klarer Gedanken. Nicht auf das Verantwortungsgefühl gegenüber der Menschheit kommt es an, wie Prinz Max von Baden zu glauben scheint, sondern auf die Verantwortung mit und inmitten der Menschheit. Der Übermensch muß dem Mitmenschen weichen. Nicht Leiden schaffen, sondern Leiden beheben. Nur so besteht die Hoffnung, daß das automatisch eingetretene Schicksal einer automatisch gewordenen Welt der Selbstbestimmung des einzelnen und damit der Freiheit weicht.
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Die konsistorialrätliche deutsche Reichsgeschichtsschreibung hat verhindert, gerade über Luther nachzudenken, und das beweist, wie notwendig es ist. Damals, zu Luthers Zeit, fand jenes Bündnis der deutschen Bourgeoisie mit dem Feudalismus statt, das alle europäischen Revolutionen überdauerte und heute Europa zu knebeln und niederzuwerfen gewillt ist. Luther war dieses Bündnisses Prophet und Herold. Durch seine Stellungnahme im Ablaßstreit hat er die Landstände, Fürsten und Magistrate brüderlich verbunden. Indem er das Gewissen in den Schutz weltlicher Fürsten stellte, half er jenen Staats-Pharisäismus schaffen, für den das Gottesgnadentum, die gottgewollte Abhängigkeit und die Phrase vom »praktischen Christentum« gleicherweise Symbole sind. Durch sein despotisches Auftreten in den Bauernkriegen aber verriet er die Sache des Volkes an den Beamtenstaat.
Die Tat Luthers soll keineswegs verkleinert oder verunglimpft werden. Vom alldeutschen Standpunkt aus muß man sie vergöttern, gewiß. Vom Standpunkt der Demokratie aus muß man sie verwerfen. Wer gegen die heutige Tyrannei protestiert wie Luther vor 400 Jahren als Mönch protestierte, hat das Recht, sich auf ihn zu berufen. Auch soll den Evangelischen nicht ihr Heiliger genommen werden, obgleich dieser Heilige von Heiligen nichts wissen wollte. »Dem Doctor Luther zulieb«, sagt Naumann, »ist das Jesuskindlein geboren worden. Der Papst hatte nur einen Schatten davon.« Sei’s drum. Solche Verehrung lassen wir gelten. Jener Luther, der herzinnige Brieflein an seinen Sohn Hänsigen schrieb; der die Bibel übersetzte und die Bannbulle verbrannte, bleibt ewiges Gedächtnis; dem protestantischen Handwerker und Bauern ein Vorbild des guten Familienvaters, wie Josef von Nazareth dem katholischen. Ein anderer Luther aber ist es, den das Wischi-Waschi alldeutschen Geredes und Geschreibes zu Demagogiezwecken ausspielt. Ein anderer Luther, der »aus der Polyphonie heraus den tönenden Weg gebahnt« haben soll, »für ein Volk, das Genies gebären wird«.
Nun stehen wir nicht gerade auf dem Standpunkt des Novalis, der da schrieb: »Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa einchristliches Land war, eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Erdteil bewohnte.« Wir sind keine katholischen Romantiker, Lobredner der Vergangenheit auf Kosten der Zukunft und Gegenwart. Nicht deshalb sind wir Antilutheraner, weil wir mit Theodor Lessing glauben: »Nur solange die große Weltidee des Katholizismus eine gemeinsame Atemluft für Europa schuf, blühte einfältige Schönheit aus nüchternem Alltag.« Nicht einer katholischen Renaissance reden wir das Wort, deren obskure Propaganda »das schöne Werk des Mittelalters« wieder herzustellen hofft oder verzweifelt »durch einen Sieg des geeinigten deutschen und christlich-europäischen Geistes über die abgefallene Welt ringsum«, wie Herr Scheler. Wenn wir die Reformation, Luther und den Protestantismus bekämpfen, geschieht es, weil wir in ihnen die Hauptbollwerke einer nationalen Isolation erblicken, die fallen muß, soll die einige Menschheit erstehen. Wir glauben auch nicht, daß es notwendig ist, »der europäischen Entartung Heilmittel aus der Welt der Upanishads und des Buddha« zuzuführen. Das würde, wie die Dinge in Deutschland heute beschaffen sind, nur die Gelehrsamkeit mehren, die Energie aber schwächen. Gedacht und geschrieben ist längst genug. Wir brauchen nur die Essenz zu ziehen aus dem Vorhandenen; denn es gilt von den Deutschen noch heute, was Bakunin 1840 über sie aus Berlin an Herzen schrieb: »Wäre der zehnte Teil ihres reichen geistigen Bewußtseins ins Leben übergegangen, so wären sie herrliche Leute.«
Graben wir unsere Bibliotheken aus! Verbrennen wir alles Überflüssige, statt neue »Heilmittel« zu suchen! Ein neuer Gewissensstrom komme über Deutschland. Wiedererwägung nicht nur politischer Fragen, sondern auch der Leistungen und Entscheidungen deutscher Geistesheroen, gemessen an den Forderungen des heutigen Europa.
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Man hat Luther den ersten großen Durchbrecher des mittelalterlichen Systems genannt, und gewiß mit Recht, wenn man damit das religiöse System meinte. Die 95 Thesen, die Luther an die Schloßkirche zu Wittenberg nagelte, handelten von der »freien Gnade«, und der Ablaßstreit, der daraus entstand, entwickelte sich rapid zum Streit um das Recht des Papstes. »Wenn die Gnade Gottes frei wirkte«, sagte Naumann, »hörte alle Zentralverwaltung der Heiligtümer auf.« Und sie hörte in der Tat auf. Freie Gnade hieß freies Gewissen, hieß über Seligkeit, Recht und Unrecht, Diesseits und Jenseits, von nun an selbständig denken zu dürfen. Freiheit eines Christenmenschen: das bedeutete, daß das bürgerliche Individuum gewillt war, von nun an die Entscheidung über letzte Fragen des Daseins auf sein eigenes Gewissen zu nehmen. Es wäre zu wünschen, daß wir in diesem Punkte noch heut Lutheraner wären.
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Im Mai 1915 emigrierte Hugo Ball gemeinsam mit Emmy Hennings in die Schweiz, wo er zunächst in Zürich wohnte. Er tingelte mit einem Varieté-Ensemble als Klavierspieler und Texter durch das Land. Schließlich kam er in Kontakt mit der Tanzschule von Rudolf von Laban, die als Treffpunkt der Dadaismusbewegung galt. Im Februar 1916 gründete er mit Hans Arp, Tristan Tzara und Marcel Janco in Zürich das Cabaret Voltaire, die als „Wiege des Dadaismus” bezeichnet wird.
Weiterführend →
Lesen Sie auch einen Artikel über die Gründung des Cabaret Voltaire.