Unbehaust, ein poetisches Polymorphem

Der Vorhang öffnet sich sehr schnell. Ertappt. Auf der Bühne steht die Patientin Jo Chang mit schreckstarren Augen. Sie befindet sich allein, in auswegloser Lage. Lässt einen Stapel Blätter fallen. Schlittert über das bereits am Boden liegende Papier. Versucht Halt zu finden. Rutsch aus. Setzt sich mit überkreuzten Beinen auf den Boden. Starrt ins Publikum, als suche sie in den Augen ihrer Gegenüber nach einer Antwort. Sie bläst die Wangen auf, lockert die Leffzen. Erst nach ein paar vergeblichen lautmalerischen Versuchen bringt sie Worte über die Lippen:

Merkwürdig

noch langer Zeit wieder Kanjis auf

das Papier zu träufeln

Reines Nichtstun war doch

die vollste Auseinandersetzung mit mir selbst

Mir bleibt nurmehr die Möglichkeit in

die innere Immigration zu gehen &

mich geistig auf den aktiven Widerstand vorzubereiten

Mit dem vollen Risiko

dass dieser Wahrnehmungsrausch in

einen Identitätsverlust mündet &

mein Wissen zu einer kurzatmigen Angelegenheit wird

Jo Chang hält die Hand vor den Mund. Kann sich nicht halten. Prustet. Beginnt zu flüstern:

Sich auf sich selbst beziehen

Sich befragen

Das geistige Instrumentarium einer Prüfung unterziehen

Grundfesten der Überzeugung auf

die Statik hin überprüfen

Pausen zwischen den Atemzügen dehnen

Stille in der Ohrmuschel einnisten lassen

Mir fällt es schwer komplexe Zusammenhänge &

Figurationen aufzeigen &

erklären zu wollen

Ein Bild von der Welt zu zeichnen…

Von wem eigentlich berichten?

Ohne Ursache &

Wirkung in undeutlichem Muster…

Wie soll man Geschichten &

Zusammenhänge erzählen

wo nur noch Fragmente zu finden sind?

Jo Chang durchsucht das Konvolut der Aufzeichnungen. Findet ein grosses leeres Blatt. Tunkt den Pinsel in die Farbe. Setzt an. Schreibt ein Kanji. Ist nicht zufrieden mit dem Resultat. Knüllt es zusammen und wirft es zu den anderen.

Ich empfinde es ganz deutlich

dass ich mich ästhetisch

moralisch & religiös in

einer Zwischeneiszeit befinde

Ein Leben im Übergang

wohin es geht

weiss ich nicht

Das Werte–System ist in

Auflösung begriffen

In meinem Innersten droht Erschöpfung

Skrupel / Müdigkeit / Zweifel

eine Wundheit & Schwäche

dass mich jeder Angriff bis

auf den Grund erschüttert

Dazu kommt die Unfähigkeit

mich geistig & politisch zu orientieren

eine wachsende Sympathie mit

dem Tode ist mir tief eingeboren

Mein ganzes Interesse gilt dem Verfall

Ich lebe in einem moralischen Niemandsland

in einer Welt grausamen Irrsinns

in die niemand eintreten könnte

ohne dort zu bleiben

Distanz ist der Schlüssel

Wer nicht betören will / muss fühlen

Vernichtung ist das Losungswort

Vor dem Gemetzel

vor Kriegen

Morden & Massenmorden

werden Begehren & Begierden wach

Eine anarchische Liebe wird

durch die Gesellschaft zerstört

die Welt wird einer Liebe geopfert

Wie bewahrt man sich im Labyrinth von Eifersucht

Liebesverrat & Käuflichkeit

die Reinheit der Gefühle?

Bei allem, was sie tut, bleibt ein unheimlicher Rest. Jo Chang stellt mit zitternd auf dem Zeichenblock trommelnden Fingern die Differenz zwischen dem aus, was ihre Figur fühlt, und dem, was sie ausdrücken kann. Sie zeigt die Absurdität des Irreseins. Ihre Gesichtszüge entgleiten ihr; es gelingt ihr nicht einmal, die Hände in die Taschen zu stecken, um an sich selber Halt zu finden.

Wie lebt man

wenn man seine Todesursache bereits kennt?

Die Flächen werden erst vom Beleuchter „spielbereit“ gemacht. Was nicht gebraucht wird, bleibt dunkel. Im Lichtpunkt „blättert“ sie in ihren Aufzeichnungen:

Der Verlust des Geschmacks ist der Vorbote

Es ist die Ambivalenz von äusserlich gewordener Selbstbehauptung

die zur Pose gefroren ist

und der kochende Gär– &

Zersetzungsprozess darunter

Als dünne Membran umgibt

meine Mitmenschen die zweite

gesellschaftliche Haut

voluminös aufgetrieben wie ein Fesselballon

worin die Faulgase eines historischen Verwesungsprozesses schwelen

Der Verfall des Körpers ist nicht aufzuhalten

man kann täglich dabei zusehen

Der Einbruch dieser Erkenntnis in

mein Leben bedeutet:

es zu ändern

Und mich auf den Tod vorzubereiten

weil ich nicht mit einer zurückgenommenen Sehnsucht leben kann

Aber vielleicht verwandelt sich mein Körper doch

noch in Heil–Fleisch?

Jo Chang spielt mit der Leere. Wenn sie spielt, fehlt etwas. Wenn sie nicht spielt, fehlt noch mehr. Leider hört sie immer auf, bevor sie den Widerspruch in den Griff bekommt. Aggressivität liegt in ihrer Gestik und ihren Bewegungen, und doch schimmert die Verletztheit eines Kindes durch, ihre grosse Wut, ihre Sehnsucht nach Liebe:

Einfach sein

sich Zeit lassen &

der allgemeinen Beschleunigung entkommen

Ich muss mich an die Arbeit machen

mit dem Risiko

in der Arbeit zu scheitern &

mich von allem

was der Sache nicht dient – abschirmen

Völlig mitleidlos beschreiben

Die Oberfläche zur Reibfläche machen

Narben schminken &

sie als neues Schönheitsideal verkaufen?

Schraffiert mit einen Grafitstift Konturen auf einem weiteren Blatt. Denkt laut nach:

Romantik ist Sehnsucht:

Der Verdacht

dass da noch mehr sein muss als das

was sichtbar ist

Wünsche > die so gross &

so unerfüllt sind

dass sie einem das Herz zerreissen

Dinge > die die Wirklichkeit sprengen

weil sie mehr Platz brauchen

als die Normalität zu bieten hat

Romantik macht uns grösser

als wir sind

Weil die Sehnsucht dafür sorgt

dass unsere Augen voll sind

& nicht leer

Romantik ist lebenswichtig

Wenn einer Sehnsucht hat

macht er weiter

Ich bin eine Romantikerin

Ich glaube an die Liebe

an die Schönheit des Augenblicks

an das Leben

an die Kraft & daran

dass es sich trotz allem lohnt

egal was man sich erträumt…

Ich bin unverbesserlich darin

richtig bockbeinig!

Beginnen so die Geschichten einer verzweifelten Radikalität?

Jedes Wort und jede Geste verweist auf eine schwer wiegende Deformationen im Seelenleben. Jo Chang ereilt ein Gedankenkettenriss:

Eine neue Unbedingtheit des Anspruchs mit

vollem Einsatz spielen &

sich festgesetztem Rollenspiel verweigern

In Leistungs– &

Verantwortungszentren das Leben neu organisieren

während die politische Geschichte in

die Gegenwart hineinreicht &

eigentlich ein Verstehen nur im Nachhinein möglich ist

Der Weltraum als Wartesaal der Zukunft hat ausgespielt

Warum versuchen die Menschen ihr Leben

als durchgängige Erfolgsgeschichte zu verkaufen

obwohl sie doch für alle sichtbar angefressen sind?

Jo Chang versucht sich weiter in sich absinken zu lassen, in eigene Tiefenstrukturen vorzudringen. Das Umkreisen ihrer Erinnerungswelten führt zur Erkenntnis, dass auch vermeintlich Authentisches ein Konstrukt sein könnte:

Das Archaische quält uns:

Verdauung / sexuelles Verlangen / Schmerz

Ich ramme mir einen Pflock ins

eigene Fleisch & wundere mich

dass kein Blut fliesst

Mein Hirn schaltet stumm

Das Herz > eine leere Kammer

Die Leber > abgesoffen

Hinrichtungen dauern zuweilen sehr lang

Ziehen sich ein halbes > ungelebtes Leben hin

um sich dann

auch noch dem Restlichen zu verweigern

Selbstdenker bleiben &

mit Trotz auf Vergeblichkeit beharren

An die Stelle der Versenkung ins Geistige

tritt die Versenkung ins Körperliche

um das eigene Selbst mit

der Natur des Universums ins

Reine zu bringen

einen Weg zu finden

zwischen Tradition & Selbstbehauptung

Konvention & Rebellion

Heraus aus den alten Bindungen

die das Leben einengen

hinein in neue Bindungen

die das Leben schützen

Den Unterschied erkennen

zwischen dem wahren &

dem zu wahrenden Gesicht

Wie die Endlichkeit des Lebens begreifen?

Wann die Gelegenheit des Todes ergreifen?

Jo Chang versucht ganze Passagen „klingen“ zu lassen, mit Eindeutigkeit zu beschweren und gefällt sich in ihrer in splendid isolation:

Dem Elend des Exils

die Kraft der Liebe entgegensetzen

Kleine Sinn–Inseln finden

erfinden…

Sich selbst in das Unvermeidliche fallen lassen

ahnungsweise Sichtbar werden

Nichts mehr haben

als sich selbst

seinen Körper

die Bewegung

seine eigenen Gedanken

Einen Versuch machen

bei sich zu bleiben

sich zu reduzieren auf den Hunger

den Durst

die sexuellen Bedürfnisse & zuletzt:

auf den Atem

Was nutzt uns alle Freiheit

wenn wir von der kommerziellen Verwertbarkeit

aller menschlichen Regungen

vollkommen umgeben sind?

Jo Chang zelebriert wie in einem Selbstzitat das grosse Geheimnis einer verstörten Seele. Was ihre Grösse ausmacht ist ein Übermass an authentischer Unschuld:

Was uns bleibt auf der abschüssigen Bahn

sind Augenblicke stummen Ausharrens

ein Schweigen > mit dem sich Stille aushalten lässt

Seltsam zu erleben

wie das Eigene zum Fremden wird &

das Fremde nie ganz vertraut

Hier herrscht ein unaufhörliches Hin &

her an Gefühlen

die sich gegenseitig nähren

die Mitmenschen gieren nach einer Stimmungsintensität

Der Wahnsinn ist der Dietrich ihrer Herzen

Mein Zweifel ist ohne Ende…

Vielleicht ist es nicht einmal ein Zweifel

denn das Spiel des Zweifelns selbst

setzt schon Gewissheit voraus

Die Universalisierung der Skepsis schlägt

auf sich selbst zurück

da sie seine Inhalte neutralisiert & stillstellt

Die beabsichtigte Aufweichung der Wahrnehmung

funktioniert schliesslich nur wenn

entweder alle verrückt sind > bis auf einen oder umgekehrt:

Wie wird in der Normalität der Wahnsinnigen

der Wahnsinn der Normalität kenntlich?

Übrig bleiben zerbröckelte Satzbausteine, frei flottierende Konversationssplitter aus dem sozialen Ersatzteillager, im Mund geführt von einer wunderwitzig strauchelnden Vokalartistin:

Es fehlt meinen Mitmenschen

die subjektive Dynamik des Aufbruchs

Ihr Protest ist system–immanent

Ihrem Furor fehlt das Futter

der revolutionäre Optimismus

der historische Fundus

Und letztlich

werden sie sich mit

einem aufgeklärten Pragmatismus begnügen

Wir sind alle Exilanten

verloren gegangen

mitten in der Welt

Sind rasende Triebsubjekte

der zerstörerischen Leidenschaft &

leiden als Patchwork–Identitäten an

der eigenen Inhaltsleere.

Jo Chang schlägt die Arme um sich. Tapsende Schritte, oszillierend zwischen Komik und Verzweiflung. Kitsch als Schminke des Daseins:

Zeit angeben

Mit der Zeit leben

Seine Uhr nach der Zeit stellen

In Zeit–Einheiten denken & arbeiten

Mit einer neuen Zeit rechnen

Sich im Raum zurechtfinden

um auf der Strecke Luft zu haben

Räume in Raster einteilen

Sehen > welche organischen Komponenten eine Rolle spielen

Was bleibt sind Erschöpfung & tiefer Schlaf

In den Träumen versucht mein Körper wieder

mit dem Geist ins Reine zu kommen &

sich zu entschlacken

Ich weiss nie genau

wieviel Wirklichkeit in den Träumen steckt &

wieviel Traum in der Wirklichkeit

Wie sich auf sich selbst beziehen

und den Zeit–Raum finden

um über sich hinauszuweisen?

Zum Raum wird hier nicht die Zeit, sondern der Klang. Goldene, rotbraune Töne von der Suche nach persönlicher, nicht etwa kollektiver Erlösung.

„Auszehrung“ ist ein Wort dieser Sprache

das ich immer in der Nähe von „Heimweh“ denke

Sehnsucht verklärt…

Ich fahre in der Erinnerung

nicht mehr vorhandene Landschaften ab

Sehnsuchtslandschaften die längst unter

Millionen Kubikmeter gestauten Wassers

verschollen sind

Es ist

als versuche man seine Leere zu inszenieren

um sich in der Versunkenheit des Ich auszulöschen

Zu greifen & begreifen

das man in einen Hautsack eingeschweisst ist

Mit der Begabung schützt

man sich vor weiteren Verletzungen

Nur wenn man sein Talent auslebt

kann man die Narben schützen

Können Lebensvorgänge eigentlich verlangsamt werden?

Kurzzeitige Taghelle, das die Verlorenheit der Darstellerin im leeren Raum zeigt. Mit den Innereien des Theaters wird gleichsam das Innere der Figur freigelegt.

Es ist nicht mehr der Spiegelraum der Gleichheit

von dem meine Mitmenschen träumen

sie versuchen sich zu optimieren

immer schneller zu werden

Sie selektieren > versuchen objektiv vorzugehen &

sich stetig den Sachverhalten anzunähern

Unter der Arbeit geht ihnen

bei diesem pragmatischen Ansatz

das Selbst verloren

Es scheint ihnen unerträglich

ihr Leben als etwas völlig unzusammenhängendes

sehen zu können

Wo es keinen Sinn gibt

konstruieren sie Zusammenhänge & versuchen sie in

wiederkehrende Strukturen zu bannen

Sie werden zu Funktionssklaven aus freiem Willen

In Fragmente zerlegt erleben sie

ihre Patchwork–Identität als

das eigentliche Selbst

Freiheit finden sie in der Demutshaltung der Einfamilienhäuser

Verschliessen sich in abgeschirmte Wohnparks

um sich den Fragen

die das revolutionäre Erbe stellt

nicht mehr aussetzen zu müssen

Mit eiserner Entschlossenheit

absolvieren sie ihre Lebensentwürfe

Verantwortliche Lebensgemeinschaften sucht

man vergebens

meine Mitmenschen führen ein Namen–loses Leben

Warum wollen sie sich dann noch selbst verwirklichen?

Jo Chang wird Opfer ihrer heftigen Affekte, hat sich zu sehr gefreut. Hat zu sehr gelitten. Freilich mit dem erforderlichen Stilempfinden. Es gibt bei ihr keine naive, emotionale Eindimensionalität:

Sich so genau kennen

dass man sich

mit sich selbst verwechselt

Diese verzweifelte Gier nach Beachtung

die verkrampfte Hoffnung wahrgenommen zu werden

der Drang nach Mitteilung

die Angst vor dem

Verschwinden im Meer der Bedeutungen

Das Grauen der Provinz

erwächst aus der Albernheit

sich weltläufig geben zu müssen

Meinen Mitmenschen fällt nichts anderes ein

als Produktideen zu entwickeln

Sie schwanken zwischen einem herzlich misslungenem &

einem entsetzlich gelungenem Leben

Aus der Spur geraten &

seine eigene Bahn ziehen

Wieviele Denkmuster muss man annehmen &

wieviel Verwilderung darf man sich gestatten?

In ihrer Lebenssinnsuche sichtet sie ihre Papiere, macht sich mit dem „Werkzeug“ an die Arbeit. Agiert mit in sich selbst zerfallenen, knappen Gesten. Hingeatmeten und sich in luziden Aphorismen ergehende Fragmente, versucht mit jeder Phrase ihr Leben zu umfassen:

Schere schneidet Papier

Stein schleift Schere. Punkt

Punkt, Komma

Strich —

fertig ist…

Es scheint

als hingen meine Mitmenschen

der Anschliessbarkeit an

einer fortwährend kritischen Prüfung der Theorie

des Denkens

gleichsam eine konstruierende Puzzlearbeit

Jede Form der formulierten Erwartungshaltung

schränkt Möglichkeiten ein

Das wahnhaft Verstehende ist

das wahrhaft Vertraute

Im Archiv der enttäuschten Erwartungen kann

ich nur meinen eigenen Wahrnehmungsverkennungen

auf den Grund gehen

Will nicht mehr das sein

was ich einmal war &

auch nicht das

was ich sein wollte

Erstrebe eine Form von Offenheit

die über Nacktheit hinausgeht

ohne meine Blössen schützen zu müssen

Inwieweit muss man sich inszenieren

um glaubwürdig zu sein?

Jo Chang hat eine Sehnsucht nach Kontrolle, wenn nicht über das Leben, dann zumindest über sich:

Ich bin auf verzweifelter Suche nach

einer wertfreien Beziehung

der Dinge zueinander

einem herrschaftsfreien Raum

einer Demokratie ohne Hierarchie

Habe eine Sehnsucht nach

dem freien

mit der Natur einigen Menschen &

erlebe Einsamkeit / Isolation / Beziehungslosigkeit

insbesondere zwischen Mann & Frau

Die Unfähigkeit der Männer

ihr Verhalten den Frauen begreiflich zu machen

Ihre Kommunikation ist defunktionalisiert

indem sie in konsumdurchsetzten Plattitüden

& selbstreferentieller Leere verharrt

Die Angst meiner Mitmenschen vor

der Freiheit macht es ihren Unterdrückern

so leicht über sie zu herrschen.

Gezeichnet von der Qual selbstzerstörerischer Energie. Todernst macht sie ein Seelenchaos spürbar, aus dem es kein Entrinnen gibt. Klar, innig und präzise:

Ein wilder Wille war da

um mir das Glück zu erkämpfen

Doch Lebensgeschichten müssen aus

dem Anderswo kommen

während der Tod bereits

einen Schatten auf das Erzählen wirft

Meine Mitmenschen jedoch zitieren Dritte &

sind sich nicht sicher

ob sie es selbst sind

oder sie sich damit aus

dem allgemeinen Gedächtnis ausfädeln

Die Sprache spricht uns –

ist ein Mittel zur Verständigung

aber die Vielfalt der Sprachen setzt mir Grenzen

Nur wenn die Rede eine Sprache findet

die uns berührt

findet Verständigung statt

Und nur in diesem Austausch findet

jeder zu sich selbst

Meine Mitmenschen haben sich

einer Sprachschulung unterworfen

die darin befähigt

Fragen wortreich unbeantwortet zu lassen

Die Sprachfähigkeit dort

wo das Leben über

das nächstliegend Sichtbare hinausgeht

ist verkümmert

Ich kann mich nurmehr zu

geistig überhöhten Zufluchtsorten bekennen

habe gelernt

das Glück kein Vergnügen ist

Nachdenken tödlich sein kann &

man sich die Welt neu erfinden muss

Die Bausteine meiner Gedanken sind

nicht mehr Grundlage des Denkens

Beim Lernen dieser Sprache

entdecke ich die unwahre Wörtlichkeit

Mein Problem lautet:
Ist die Syntax ein Organismus?

Lebt diese Sprache

oder beschreibt sie eine untergegangene Welt?

Raum für Unbehauste. Unsicher in der Fortbewegung testet sie auf Zehenspitzen den Boden aus. Gemurmelte Überlegungeschleifen:

Niemand kann seine Vergangenheit einfach abschütteln

Wir werden durch die kulturellen Traditionen geprägt

in denen wir aufwachsen

Wäre unsere Identität völlig

durch kulturelle Traditionen vorherbestimmt

der Mensch wäre eine trauriges Wesen

Daran will ich nicht glauben

Es gibt die Freiheit, Entscheidungen zu treffen

Hier war es mir möglich

ein neues Leben zu beginnen

mich selbst neu zu erfinden

Ich halte nichts von

der globalen Ausbreitung irgendwelcher Ideen

Jeder sollte für sich eine eigene Identität entwickeln

Es gibt keine festen Identitäten mehr

nicht einmal hinsichtlich des Geschlechts

Man wählt selbst das Land

die Kultur

die Religion

der man sich zugehörig fühlt

Ist es im Zeitalter neuer religiöser Kulturkriege nicht müssig

fromme Appelle zur religiösen Humanisierung des Menschen zu verkünden?

Jo Chang hält die Hand vor den Mund. Kann sich nicht halten. Prustet. Beginnt zu agitieren:

Wenn Religionen

das ethisches Gedächtnis der Menschheit sind

bieten sie auch der Moderne Kraftquellen moralischer Erneuerung

Keine Religion hat jedoch die Kraft besessen

Ideale einer Zivilisierung des Menschen

umfassend durchzusetzen

Nirgends sind durch

religiöse Ethik die Spannungen zwischen

äusserer & innerer Kultur erfolgreich versöhnt worden

Was tun > wenn für manche die Ehrfurcht vor dem Leben

nichts mehr bedeutet

dass Leben nur auf Kosten anderen Lebens

das Leben des Menschen nur durch Zerstörung

des Lebens von Pflanzen & Tieren

gelebt werden kann?

Es ist die Transzendenz eines um alle Verletzlichkeit und Vergänglichkeit wissenden Humors, der Jo Chang schützt und in denen ihre Sehnsüchte auf berührende Weise aufgehoben ist.

Wer das Geheimnis der Töne kennt

weiss um das Mysterium des Weltalls

Kompositionen werden zum

Refugium indem

technische Perfektion &

metaphysische Tiefe verschmilzt

Jo Chang verspürt eine Sehnsucht nach Travestie und Entgrenzung, Enthemmung und Überschreitung.

Über mich beugen sich

eiserne Insekten mit Glasaugen

weiss vor Gier

ein blau schimmernder Raubfisch mit

einem Dutzend weit aufgerissener Mäuler

krümmt sich hoch über

einer Menschenmenge

die darauf wartet

von ihm verschluckt zu werden…

über den Dächern dieser Stadt wacht

eine stolze Phalanx behelmter Soldaten darauf

die Bürger vor weiteren Ungeheuern zu schützen

auf der Regenrinne hocken monströse

juwelenbesetzte Krustentiere

& warten auf sonnigere Tage

während sich anderenorts

skelettierte Dinosaurier durch

Treppenhäuser winden

immer auf der Suche nach Opfern

In einer Phänomenologie der Entfremdung, die zwischen Aufstiegssehnsüchten, Scheinhaftigkeit und Gewinnsucht auslotet, liegt Jo Chang nichts ferner als eine Botschaft.

Einst wurden Utopien durch

Rationalität, Wissenschaft & Technologie verkündet…

schon Vokabular & Sprachduktus zeigten

das dies nicht schmerzfrei gelingen konnte

Mir bleibt eine paradox—dialektische Traumwelt:

die Herstellung von Ganzheit als

kontemplative Bergung des gehetzten Ich

innerhalb einer vitalistisch durchorganisierten Welt

Sie offenbart die Unruhe unter der Oberfläche ihrer wohlgesetzten, kontrollierten Worte. Kann ihre Hände nicht ruhig stellen. Mit den Fingern trommelt sie, verhindert Körperexplosionen, indem sie die Arme auf dem Rücken verschränkt, mit der einen Hand die andere festhält. Presst sie unter die Achseln. Es gelingt ihr nicht, die Emotionen zu verbergen.

Was bevorsteht ist

kühle Nüchternheit > ein

asketisches Knabbern an

den Fingernägeln

Ich muss Konventionen &

Begriffsverhärtungen überwinden

die Brücke vom Gedenken in

die Gegenwart schlagen

ergebnisoffene Dialoge führen

einen Ort suchen um

der Erfahrungswelt der Sinne einen

festen Platz zu geben

Schönheit entsteht durch Hin–Sehen

die Wirklichkeit so sehen

wie sie ist & nicht

wie sie sein soll

& Staunen–können

dann wäre ich gerettet &

trotzdem gerichtet

Autopsie am lebenden Leib, Protokoll einer Auslöschung, Diagnose: pathologische Trauer, Schlaflosigkeit, Anorexie, Angstanfälle, Selbstmordabsichten, akute Psychose. Das poetopathologische Zelebrieren des Nichts, der Inhaltslosigkeit und massenhaften Reproduktion von plakativer Leere. Jo Chang bringt die Sprache dazu, ihre Arbeit zu tun:

Als ich aus Asien floh

ging ich von einer immateriellen >

unsichtbaren Lichtwirklichkeit aus

& sah sie in Polarität zur materiellen Welt

zwischen den Schriftzeichen versuche ich nun

das Licht im Raum sichtbar zu machen

und einen lichterfüllten Energiebereich

zu erkennen

& sehe nur des Teufels liebsten Trick:

eine Spiegelung von Spiegeln…

Sie hat einen zersplitterten Spiegel an sich gerissen, in dem sie sich erkennt und zugleich verletzt. Ist eine Gezeichnete auf verzweifelter Suche nach Restbeständen von Individualität.

Jede Enthüllung birgt ein neues Rätsel

da der Wahrheit nicht zu trauen ist

die Europäer reden so über Freiheit

als hätte sie je existiert…

die Apokalypse gehört zu ihrem Handgepäck

ohne Auslöschung führt kein Weg ins Paradies.

Ihre scharf gespuckten Konsonanten gehen über in ein kehliges Lautgestammel, mit dem sie ihr Zeichenalphabet übersetzt, murmelt und singt. Es hat den Anschein, als wolle sie sich allein auf das Klangliche kaprizieren. Bis sie der subversiven Kraft von Klängen wie Worten misstraut:

Unter die hohle Kruste

des Schweigens dringen

Ausgebrannt

den Geschmack von kalter Asche auf der Zung‘

Meine Generation ist daran gescheitert

das Physische mit dem Intellektuellen zu verbinden

Allein im Scheitern scheint

der Sinn zu stecken

so wie jeder Zerstörung

die Selbstzerstörung innewohnt

Aus der Erschöpfung schöpfen &

sich erschöpft haben mit dem Gefühl

ALLES erschöpfend behandelt zu haben

Gebremst zurückgenommen

bis an den Rand des Verschwindens gelangen

Einsamkeit ist auch nur eine Form

vor sich selbst zu flüchten

Ich muss in aller Zartheit verwegen bleiben &

in der Ruhe die Kraft sammeln

die Melancholie des Lebens betrauern &

seine Absurdität verhöhnen

mit dem Lachen am Schluss als

Siegerin untergehen

Den Gesang auf einen Gott anstimmen

an den ich nicht glaube &

den ich doch mit ins Nichts reissen möchte

Wo Schweigen nichts mehr nutzt

hilft nur noch Schlaf

Was bleibt ist ein lyrischer Moment

der die Flüchtigkeit des Lebens festhält…

Jo Chang verneigt sich anmutig. Abgang.

 

 

 

***

Unbehaust. Monodram von A.J. Weigoni. Mit Holzschnitten von Haimo Hieronymus. Künstlerbuch. uräus-Handpresse, Halle an der Saale 2003. – Wiederveröffentlicht in Parlandos, Langgedichte und Zyklen von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Bad Mülheim 2013

Coverphoto: Leonard Billeke

Die Hörspielumsetzung von Unbehaust durch den Komponisten Tom Täger ist erhältlich auf dem Hörbuch: Gedichte von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2015

Hörproben →

Probehören kann man Auszüge der Schmauchspuren, von An der Neige und des Monodrams Señora Nada in der Reihe MetaPhon. Zuletzt bei KUNO, eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung.