Ich vertraue meinen dichterischen Einfällen und frage nicht, warum ich immer wieder über die Pflanzen auf unserer Welt dichten muß. Heute früh belauschte ich ein Gespräch, das die Bäume lebhaft miteinander vor meinem Fenster führten. Seitdem nehme ich an, daß es sich, wie bei den Menschen und Tieren, auch bei den Pflanzen um eine persönliche bewußte Blutverwandtschaft handelt. Denn die behäbige Linde erinnerte mit großer Besorgnis die kleine schlanke Linde, sich grade zu halten: »Halt dich grade!« Derartiges Interesse pflegt nur eine Mutter für ihr Kind an den Tag zu legen. Mir fiel es schon einige Male schleierhaft, noch im Nebel der Sinne, auf, wie sich die Armäste der Mutter Linde besorgt zur Tochter herabbogen, und ich hörte den üppig belaubten Mutterbaum sie vernehmbar ermahnen; und auch ich muß mit Bedauern feststellen, der Stamm der jugendlichen Linde neigt zum schiefen Wachstum. Hingegen die gebräunten Leiber des Kastanien- und Hollunderbaums sich strecken beim Hellwerden der Erde täglich kerzengrade in die Höhe! Mit begreiflichem Neid beobachtete die Lindin die beiden gleichaltrigen Freunde ihrer Tochter, über deren Verträumtheit könnte sie gelb werden!! Aber noch an der Nabelwurzel gebunden, sehnte die sich schon im zartesten Keim, drängend im Erdreich, in die Seligkeit des Himmels zu wachsen. Und so kam es, da sich ihr Leben nur in des Markes innerstem Herzen abspielte, unbekümmert aller Äußerlichkeiten, ihr körperlicher Schaden drohte, zu erleiden. Bäume, überhaupt jede Pflanze besitzt ein wirklich pochendes Herz, das das Blut durch die Zellen treibt, durch die allerkleinste ihres Blattes. Früchte vermögen zu erröten, und namentlich der Herzkirsche spielt die Liebe das Blut in die Wangen. Pflanzen besitzen wirkliche Herzen, manche heilig blutend am Morgen, wie es bei der jungen Linde der Fall ist. Die liebe ich, wie eine Lieblingsgefährtin, was eigentlich nicht zu dieser Geschichte »Die Bäume unter sich« gehört. Aber ich nehme persönlichen Anteil am Geschick des weichverträumten Baumes. Unter viel, viel Nachsinnen und Kopfzerbrechen und Demut vernachlässigt die sanfte Heilige ihre Gestalt. Und doch bemerkte ich in der Dämmerung um ihrer Bäumlichkeit einen silbernen Schein, der Auserwählten reiner Seele Strahl, dessen Funke zu Gott steigt. Ich wußte es, sie hatte einmal einen Engel gesehen, der sie segnete. Immer rauscht sie inbrünstig, auch dann, wenn der drohende Westen wetternd in die Junistille einbricht. Die anderen Bäume hingegen scheinen kaum einen Wechsel der Luft zu bemerken, sie lassen sich wenigstens im Spiel nicht stören, sieben grade sein, soviel Schöpfungstage es geben; die zu nennen in allerlei Betonungen: ihr tägliches Gaukelspiel. Wie ein Schwarm von Faltern umschweben schließlich der Montag und der Dienstag, der Mittwoch, der grüne Donnerstag, der schimmernde Freitag und Samstag und der stille Sonntag die lachenden kindlichen Bäume. Sie begnügen sich mit der Schönheit des Bodens, darin sie sicher stehen und sich erfüllen; plaudern mit dem umgegrabenen Gartenhof und seines Beetes Stiefmütterchen und Vergißmeinnicht, blauen und rosafarbenen. Wenn die Ziege nebenan aus dem Stall meckert, jauchzen die Bäume und alle Blumen und Halme. Schon die Urblatteltern amüsierten sich im Paradiese über das herzhafte Knattern der Böcke. Der liebe junge Gott neckte sie oft mit einem langen langen Zittergras, das kam so plötzlich aus den Wolken herunter. Das Gegackel der Hühner jedoch mißachteten schon Adam und Eva und es macht namentlich auch die Lindenmutter nervös. Sie atmet dann ungeduldig auf, beschließt das Spiel, frühzeitiger Feierabend, und erklärt mit wohllautender Stimme: »Sonntag!« Und es ist kein Vogel, der etwa da noch gezwitschert hätte. Ein von Anfang der Welt erhaltenes Unterhaltungsspiel, das Aufzählen der sieben Schöpfungstage; bunt in den Lüften, stark auf dem Erdreich erhalten, hell über den Wassern und hold unterm Himmel lebt es nur im Spielprogramm der Bäume noch. Und wissen eigentlich nichts von der »Zeit«, tragen sie nicht zwischen zwei Deckeln, kontrollierend im faserigen Spalt ihrer Rinde Cheviot. Dafür aber lassen sie die Ewigkeit ticken unter ihren Stämmen. Wenn der liebe Gott neue Sterne über den Himmelsteppich streut und seine spielende ewige Hand davon eine Anzahl verwischt, entsteht der Komet mit seiner goldgesprenkelten Pfauenschleppe. Durch die Wunderposaune des Ostens wird er zunächst den Bäumen unter den Pflanzen frühzeitig angekündigt. Es beginnt in ihren Kronen unbändig zu stürmen: Der Messias kommt, mit seiner Schönheit ihre Herzen zu erquicken! Und sie tun sich alle auf einmal zusammen, bilden eine grüne Gemeinde; ja, die entwurzeln sich im Frohlocken ihres Glücks sogar; wir Menschen bemerken es nur nicht, denn die Erwartung des herrlichen Sterns hält sie gespannt im Erdboden fest. Ich kann die Welt täglich mehr fassen; wie der Baum, wie die Blume und alle Pflanzen sie faßten vom ersten Korn des Säens an. Wer kennt einen Baum, der Philosoph ist, oder eine Tanne, die sich eine Weltanschauung aus ihrem Holze zimmerte? Was hat der Baum oder gar die Rose eine Weltanschauung nötig? Sie lassen sich feierlichst von der Welt anschauen, die betrachtet sie stolz in aller Gemütsruhe als ihre Kindeskinderkinderkinderkinderkinder blühendes Erbgut in Wohlgefallen. Die sollten mal wagen, in Gottes monumentalem Schrank zu kramen! Und doch versuchen ihn etliche Menschen aufzuschließen, ja, oft zu erbrechen! Klemmen sich die Finger oder greifen ins Leere, wenn sie auch ab und zu ein Schweißtüchlein für ihre Weisheit erwischen. Was nämlich bei uns »oben« liegt, befindet sich dort »unten«, und was nämlich bei Gott »oben« funkelt, ergraut bei uns »unten«. Ich bin von der bescheidenen Zurückhaltung der Pflanzen beschämt, wenn ich auch, weiß Gott, mir nie eine Weltanschauung erlaubt habe zu konstruieren (etwas Faulheit spielt wohl mit). Es ist mir eben zu weit. Der Weg zu mir beträgt für die Welt ja nur einen Sprung, eine kurze Untergrundbahnfahrt; für mich zu ihr eine Sternenreise. Aber einmal holte mich die Welt ab vom Schauplatz, wir sind nämlich zusammen zur Schule gegangen, sie hat mir immer die Aufgaben gemacht und mir in der Religion geholfen. Wir fuhren Hand in Hand im Kreis, immer im Kreis! Welt liegt in Welt wie Mensch in Mensch, Tier in Tier und Baum in Blatt und umgekehrt Blatt wieder in Baum und alles in alles und alles in allem und All in Gott. Amen. Das wissen die Pflanzen allesamt und es beseelt höchstens den träumerischen Baum ein Wunsch, der, … in den Himmel zu wachsen. Im Eifer um das höchste heilige Lob vergißt so eine gotterfüllte Linde sich grade zu halten! Ich möchte wohl ein Baum sein, schon, weil manchmal ein Vogel kommt und in meinen Zweigen singt.
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Essays von Else Lasker-Schüler. Mit einer Einbandzeichnung der Verfasserin. Verlegt bei Paul Cassirer in Berlin 1920
Weiterführend → KUNO würdigte die Poetin mit einem Rezensionsessay.
→ Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.