Zum unbehausten Menschen · Revisited

 

Als Nietzsche vor über einhundert Jahren den Tod Gottes proklamierte, erschuf er die Sinnleere des Lebens wie auch die Eröffnung ganz anderer Freiheitsräume, als wir bis dato kannten. Seitdem durchirrt die Menschheit diese Räume und verliert sich. Im Zeitalter der kulturellen Globalisierung und Traditionsverschiebungen bleibt der Mensch als strauchelndes Wesen auf den Straßen der Zivilisationen zurück und sucht nach den Bruchstücken seiner selbst. Die Künstler A.J. Weigoni, Haimo Hieronymus und der Handpressendrucker Hans-Ulrich Prautzsch zeichnen das Bildnis der klaffenden Persönlichkeit in ihrem Künstlerbuch Unbehaust poetopathologisch auf und führen zugleich eine poetische Untersuchung über das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit zwischen Gutenberg und Internet.

Cover des Künstlerbuches Unbehaust. Holzschnitt von Haimo Hieronymus.

Jens Pacholsky: Laut Duden bezeichnet das Langgedicht ein „umfangreiches Gedicht, das oft mehrteilig oder als Zyklus angelegt ist. Es vermischt lyrische und epische Elemente, oft ohne verbindliche metrische Form.“ Unbehaust wirkt auf mich wie ein Hybrid, ist es ein Langgedicht, ein Monodran, ein Hörspiel oder ein Theaterstück?

A.J. Weigoni: Es funktioniert in unterschiedlichen Medien jeweils anders. Wir haben im Tonstudio an der Ruhr Unbehaust mit Bibiana Heimes als Jo Chang als Hörspiel aufgenommen. Ausschschliesslich aus Papiergeräuschen hat Tom Täger ein Komposition dazu gemacht. Auf der Bühne funktioniert es als als Einpersonenstück und…

Pacholsky: … in der Druckfassung ist eine poetopathologische Aufzeichnung?

Weigoni: Was zu Beginn ein starres Wort ist, begann zu leben, es bilden sich zusammen in der Kombination mit anderen Wörtern losen Zeilen, etwas Lebendiges wuchs. Und so entstanden aus Buchstaben nach einer Zeit des Überformens ein Langgedicht.

Pacholsky: Das heisst konkret bezogen auf das hybride Stück Unbehaust?

Weigoni: Der Hauptfigur, Jo Chang, ist das Leben entglitten. Sie versucht es auf dem Papier mit Kanjis (chinesische Schriftzeichen) wieder zu ordnen. Sie stößt auf der Suche nach dem Ort, an dem sie leben will nach biografischen Brüchen und geografischen Verortungen und versucht das, was wir alle tun, nämlich dem Leben, wenn es schon keinen Sinn hat, in ihren Aufzeichnungen wenigstens eine erzählerische Ordnung zu geben. In ihren poetopathologischen Aufzeichnungen kämpft Jo Chang gegen das Vergessen, das Verlassenwerden, die Gesellschaft, Gott und den Tod.

Pacholsky: Wird durch das Zitieren vieler aktueller gesellschaftlicher Themen in diesem persönlichen Monodrama auf kleinster Ebene das Drama der Welt, der höheren Ebene, gespiegelt?

Weigoni: Es geht darum durch Sprache zur Welt finden und durch das Buchstabieren der Welt zurück in die Sprache… Erfahrung einatmen, Poesie ausatmen. Leben und Dichtung sind nicht getrennte Bereiche, sie entwickeln sich miteinander in Verantwortung und Zeugenschaft. Ob dieses Monodram etwas bedeuten sollen, ist zweitrangig. Entscheidend ist, dass es sich ereignt.

Pacholsky: Der Blick geht weiter, er reicht in die Untiefen der Seele, in die Sphäre des Unterbewussten und Verdrängten. Frau Chang scheint mit den Worten zu schweben: eine Sprechmusikerin?

Weigoni: Dieses Langgedicht ist ein Sprachgeschehen, das die Leser und Hörer synchron miterleben können, vorausgesetzt, sie sind bereit, den sprunghaften Wechsel zwischen symbolistischen und gegenständlichen Weltbeschreibungen mitzuvollziehen. Jo Chang laboriert mit Methoden zum Einfangen irrationaler Verbindungen mittels der „écriture automatique, sie erkennt die seelischen Verkrüppelungen, Restriktionen und kommunikativen Verarmungen, das Orientierungsdefizit der Mitmenschen, ihre autistischen Tendenzen, Doppelmoral, Neurosen und den Lebensverzicht. Diese Perspektive birgt reizvolle Chancen für kleine Grausamkeiten und unerwartete Wahrheiten.

Pacholsky: Ist das Projekt Unbehaust eine Vermischung moderner Ästhetik und Technologie mit der alten?

Weigoni: Wir schlagen mit Unbehaust nicht nur einen Steg zwischen den Künsten (Malerei / Poesie), sondern auch eine Brücke zwischen den Zeiten und produzieren ein Künstlerbuch. Zugegebenermaßen ist erscheint das als elitär. Es gibt im deutschen Sprachraum keine 500 Menschen, die meine Gedichte richtig lesen können. Die Höchstform findet also unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Arno Schmidt hat gesagt, er wäre mit 100 Lesern zufrieden, und zitierte James Joyce, der nur zwölf Leser haben wollte.

Pacholsky: Man kann Unbehaust als Rollenlyrik lesen, aus Klang gemacht, Kraft und Stil zugleich. Wird das Stück irgendwann einmal als Theaterstück erlebbar sein?

Weigoni: Nirgendwo entfaltet sich jedoch ein Monodram so wie auf der Bühne, einem Stück Theater. Dies als Wunsch an meine Fee: Ich möchte alle drei Stücke (auch das Monodram Señora Nada, sowie das Sissi-Stück* Oden an die Zukunftseelen) auf der Bühne hören und sehen.

 

 

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Anmerkung der Redaktion: Die Kurzfassung dieses Interviews von Jens Pacholsky mit A.J. Weigoni erschien im Goon-Magazin, Berlin. Da diese Zeitschrift eingestellt wurde, macht KUNO es zu Recherchezwecken zugänglich.

*Das Live-Hörspiel Oden an die Zukunftseelen wurde am 6. September im Schloß Morsbroich uraufgeführt. Elisabeth, Kaiserin von Österreich wurde gespielt von Elisabeth Trissenaar. Produktion: WDR 1998

Die Hörspielumsetzung von Unbehaust durch den Komponisten Tom Täger ist erhältlich auf dem Hörbuch: Gedichte von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2015

Coverphoto: Leonard Billeke

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