Mit seinem neuen Trauerspiel »Der Turm« greift Hofmannsthal auf die Gestaltenfülle des Barock zurück. Als der geheimnisreichsten einer aus der Menge tritt Calderons Prinz Sigismund in ein neues Leben. Dem Drama liegt ein Stoff im eminenten Sinne, der des spanischen »La vida es sueño« zugrunde: Das Leben ein Traum. Der Künstler aber wirkt nur in den Stoff hinein, indem er ihm gehorcht. Heißt »dichten« einen Stoff zur Auseinandersetzung mit sich selber bringen, so führt es oft durch eine Reihe von Stationen. Die großen Themen staffeln sich in Formen, von denen eine in die andere greift. Und nirgends gilt dies strenger als im Drama. Denn seine Form ist ein sehr wichtiger Index vom schöpferischen Willen eines Kollektivs. Dessen Gesetz aber besagt, daß in der Spannung zwischen Urform und Variante die echte, die produktive Intensität sich ausschwingt. Sie ist zu aller bloßen »Originalität« der Gegensatz. Die Zahl der fruchtbaren dramatischen Stoffe ist begrenzt; unendlich sind nur die Motive, die sie Form gewinnen lassen. Erfindung schlechtweg ist gerade im Dramatischen die Passion des Dilettanten. Der glaubt in ihr die »Originalität« verbürgt. Sie aber liegt, ihrem Begriffe nach, außerhalb des Kraftfeldes der historischen Spannungen, die das eigenste Leben des großen Dramas bestimmen.
Die geschichtliche Spannung, wie dieses neue Werk sowohl in sich wie im Verhältnis zu dem Calderonschen Urbild sie entfaltet, macht ihr höchstes Interesse aus. Man weiß, im Mittelpunkte jenes Dramas steht der Traum. Ein Königreich Polen »mehr der Sage als der Geschichte« ist dort, wie auch bei Hofmannsthal, der Schauplatz. Darinnen herrscht Basilius als König. Von seiner verstorbenen Gemahlin hat er einen Sohn Sigismund. Die Astrologen sehen dessen Horoskop voll Unheil. Der Mutter brachte er im Wochenbett den Tod, der Vater fürchtet weitere Erfüllung jenes Spruchs, der angibt, daß der Sohn die väterliche Krone rauben werde. Daher verbirgt man ihn an einem abgelegenen Ort. In einem Turme wächst der junge Sigismund heran. Mit niemandem als seinem Wärter darf er reden, nicht frei umhergehen, Ketten schmieden ihn an sein Gefängnis. Der väterliche Argwohn des Tyrannen steht bei Calderon, dem hohen Funktionär an Philipps Hofe, nicht außer allem Verhältnis zu Natur- und Staatsrecht. In seiner Weisheit gibt vielmehr der Fürst dem Prinzen die Gelegenheit zu einer Probe. Den Schlafenden entführt man auf das väterliche Schloß, und hier erwacht er, wird als Prinz begrüßt und zeigt in Spiel und Gegenspiel sein wahres Wesen. Zorn, Wollust, Mißgunst, Hochmut brechen aus dem Innern des fürstlichen Caliban. Es bleibt nichts übrig als ihn zu entfernen und dem von neuem in die Kerkernacht versenkten »Dies alles ist ein Traum gewesen« einzuschärfen. Was kommt, entscheidet sich in dieser zwiefach irrealen Schicht vermeinten Träumens. Der Prinz im Grübeln, dekretiert am Ende: »Doch sey’s Traum, seys Wahrheit eben: / Recht thun muss ich; war‘ es Wahrheit, / Desshalb, weil sie’s ist; und war‘ es / Traum, um Freunde zu gewinnen, / Wenn die Zeit uns wird erwecken.« Da ruft der Vater aus freien Stücken ihn auf den Thron, der Spruch der Weisen erfüllt sich zu aller Glück, die Drohung der dämonischen Natur aber hat christliche Vorsicht vereitelt.
Dies ist der Stoff, der um neues Leben den Dichter anging. Der Traum als Angelpunkt historischen Geschehens – das ist seine faszinierende, befremdliche Formel. Was konnte Hofmannsthal bestimmen, ihrem Aufruf zu entsprechen? Durch das, was nur »Variante« eines Stoffes ist, glückt ihm, aufs tiefste eine Form zu wandeln, zu bewegen. Calderon schrieb ein »Schauspiel«, in dem die spielerischen, die romanisch-romantischen Momente zu erstaunlichster Entfaltung kommen. Der Spanier umreißt die ganze, höchst barocke Spannung seines Stoffes innerlich. Als Reflexion, in der Volute rollt er ihn zusammen. Im »Turm« ist, was sich dort verschlungen, aufgerollt. Die Unnatur jener väterlichen Gewalt, das Martyrium dieses prinzlichen Daseins sind beim Namen genannt. Vielmehr in einer – auch im Theatralischen – unvergleichlichen Hauptszene nennen sie sich selber beim Namen. In den Schranken dieser neuen »Traumszene« rast nicht die blinde Kreatur sich aus, die leidende hält über ihren Peiniger Gericht. Und da der Vater aus Gründen der Staatsräson – um eine Rebellion zu stillen – seinen Sohn zu sich erheben will, schlägt Sigismund ihm ins Gesicht. »Wer bist du Satan, der mir Vater und Mutter unterschlägt? Beglaubige dich?« Damit hat die Funktion jenes Traums sich im tiefsten gewandelt. Wo er bei Calderon, wie ein Hohlspiegel, in einem unermeßlichen Grunde die Innerlichkeit als transzendenten siebenten Himmel aufreißt, da ist bei Hofmannsthal er eine wahrere Welt, in welche ganz und gar die Wachwelt hineinwandert. »Wir wissen von keinem Ding wie es ist, und nichts ist, von dem wir sagen könnten, daß es anderer Natur sei als unsere Träume.« »Sie haben zu mir gesagt: du hast geträumt und immer wieder: du hast geträumt! Dadurch, wie wenn einer einen eisernen Finger unter den Türangel steckt, haben sie vor mir eine Tür ausgehoben und ich bin hinter eine Wand getreten, von wo ich alles höre, was ihr redet, aber ihr könnt nicht zu mir und ich bin sicher vor euren Händen!« Durchaus hat alles sich im Wirklichen zusammengezogen wie unter der Einwirkung einer ätzenden Einsicht. Das breite Liebesspiel der spanischen Bühnentradition ist ebenso dahingefallen wie die transzendente Moralität des Traumlebens. Hofmannsthals Szenar kennt keine bedeutsamere Frauenrolle. Ein männliches Nebenspiel tritt an den Platz der parallelen Liebeshandlung. Julian, der für den Prinzen haftet, ihn bewacht, liebt Sigismund und sucht dennoch zugleich für den Ehrgeiz seines eigenen Strebens ihn auszunutzen. Der Mann, dem nichts als ein winziges Aussetzen des Willens, ein einziger Moment der Hingabe fehlt, um des Höchsten teilhaft zu werden, ist nie so leibhaft über die Bretter gegangen. Sein Gegenspieler, der Arzt, Herr seiner Kunst und Kundiger von ihren tiefsten Gründen, eine paracelsische Erscheinung, der seinesgleichen, seinen Oberen in der blöden Kreatur erkennt, als welche Sigismund am Anfang der Geschehnisse, fast ohne Sprachvermögen, aus dem Turme ihm entgegenkommt.
Dieses Drama ist ein weiteres, entschiedenstes Vordringen in einem Bezirk, der gleich sehr dem dramatischen Gestalten seines Dichters wie der neueren Szene schlechtweg vorbestimmt scheint. Das »Vortragische« mag man ihn nennen. Aus dem Ritual ist das Drama erwachsen, Urtypus der dramatischen Spannung die Spannung zwischen Wort und Aktion. Nicht was man in läßlicher Rede so nennt: nicht eine Spannung im Bereich der Worte selber (nicht die der Debatte) noch auch die des sprachlosen Ringens (des Kampfes schlechthin) ist dramatisch. Das ist allein die Spannung des Rituals, die zwischen Tun und Rede selber, im Polaren, überspringt. Dem so verstandenen innerlichsten Zirkel des Dramatischen ist selbst das Tragische schon äußerlich. Es trägt die Spannung zwischen Leib und Sprache – von Aktion und Wort – rein sprachlich aus und die Debatte als ein Späteres, ein Vereinzeltes und als Variante des Dramatischen schlechtweg kommt auf. Dieses Dramatische selbst aber ist ein Vortragisches. Als »Ödipus«, »Elektra« und »Alkestis« des Dichters vor mehr als zwanzig Jahren erschienen, da drängte eine Auseinandersetzung mit der griechischen Tragödie ans Licht, wie sie der barocken Dramatik in Opitz‘ »Troerinnen« vorangegangen war. In ganz Europa wuchs damals die neue Form, die sich in Deutschland als das »Trauerspiel« wenn nicht am reinsten so am radikalsten prägte. Ein »Trauerspiel« heißt nicht umsonst der »Turm«. Und so entsagt er der Chimäre einer neuen »Tragik«. Was er im Prinzen Sigismund beschwört, das ist vor allem der geschundene Leib des Märtyrers, dem gerade Sprache – nicht umsonst – sich weigert. Damit nimmt dieses letzte Drama des Dichters die kostbare Tradition der deutschen Bühne so kühn wie sicher an dem Punkte auf, wo sie der Klassizismus unterbrach. Und wenn die Dramaturgen (die doch wahrlich nicht Überfluß an edlen Materialien haben) den Stoffen minder als den Kräften neuer Texte das wahrhaft Rechtzeitige abzumerken trachten würden, so wäre vielleicht gerade dieses Werk heute schon über die deutschen Bühnen gegangen. Es sind Szenen darinnen, welche die gewaltigen Anforderungen an Darsteller und Spielleiter mit der tiefsten Erschütterung des Publikums lohnen würden. Der blutige König, wie er sich, gleich Shakespeares Claudius ins Gebet, in die Schönheit eines Herbstabends verliert; der Prinz, wie er vorm Alkoven seiner Mutter zurückschauert und doch nicht weiß, wovor er sich befindet; Julian, sein Wächter, wie der Arzt ihm die Entscheidungsfrage stellt.
Das alte Trauerspiel schlug seinen Bogen zwischen Kreatur und Christ. In dessen Scheitelhöhe steht der vollkommene Prinz. Wo Calderons christlicher Optimismus den sah, da zeigt sich der Wahrhaftigkeit des neueren Autors Untergang. Sigismund geht zugrunde. Die dämonischen Gewalten des Turms werden seiner Herr. Die Träume steigen aus der Erde auf und der christliche Himmel ist längst aus ihnen gewichen. Im Aufruhr tritt ein sagenhafter »Kinderkönig« die wahre Erbschaft dieses Prinzen an, wie Fortinbras die Hamlets in der Thronbesteigung. Im Geist des Trauerspiels hat der Dichter den Stoff des Romantischen entkleidet und uns blicken die strengen Züge des deutschen Dramas daraus entgegen.
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Der Turm. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen von Hugo von Hofmannsthal. (München: Verlag der Bremer Presse 1925.)