Wie ein großer, eben gefangener, noch zuckender Fisch liegt Hamburg an der Nordsee.
Ewige Nebel lagern auf den zugespitzten schuppigen Dächern seiner Häuser. Kein Tag hält seinem blassen, windigen, launischen Morgen die Treue. Mit Flut und Ebbe wechseln dumpf nasse Wärme, Sonne, graue Kälte des offenen Meeres und Regen, der auf den blanken Asphalt niederströmt, als wenn jemand, am Seeufer stehend, mit einem alten durchlöcherten Schiffseimer die halbe Elbe auf das von Feuchtigkeit rauchende, vom Grog der Hafenkneipe durchwärmte, lustige Hamburg ausschüttet, das breitbeinig auf beiden Ufern der Elbe steht wie auf einem Schiffsdeck.
Wie ein Vorurteil, wie etwas, das nicht mehr in unsere Zeit gehört, ist die Natur an den Ufern dieses riesigen Industrieflusses ausgemerzt. Im Verlauf Dutzender Kilometer sah ich zwei Bäume. Doch diese glichen eher Masten, von einem Schiffbruch übriggeblieben: den einen an der Mole, gebückt wie eine Alte, die gegen den Wind kämpft, der ihre wollenen Strümpfe mit zornigen Schaumflocken bewirft. Den zweiten – am Kontor der größten der Hamburger Werften, der Werft von Blohm & Voss. Dieser Baum steht nur aus Angst da: unter ihm – ein widerwärtiger schwarzer Kanal, in den sich die Fabriken durch die aufgesperrten Rachen der Zuflußrohre erbrechen. Eine Brücke, das Häuschen eines Postens, und am anderen Ufer, im blassen Licht der fünften Morgenstunde – die glänzenden Fenster der unsichtbaren Gebäudekomplexe; endlose Reihen übereinander, knüpfen sie ihr elektrisches Licht an das Tageslicht an. Das größte Wunder, das Schlankste, was das Reich des schlanken Metalls kennt, sind die sich über den Hafen beugenden leichten Tore der größten Hebekräne, die es in der Welt gibt. Zu ihren Füßen liegen wie aufgetürmtes Spielzeug fertiggebaute Ozeandampfer, mit erleuchteten Bordfenstern, mit unschönem Unterteil, gleich Schwänen, die man aus dem Wasser gehoben hat. Hier arbeiten drei Schichten – krampfhaft, unbarmherzig. Hier macht die deutsche Bourgeoisie, indem sie die Arbeiter wie nasse Wäsche auspreßt, die letzten hoffnungslosen Versuche, die sie paralysierende Krise zu überwinden; sie baut, schafft neue Werte, bevölkert den Ozean mit ihren weißen schwarzröhrigen Schiffen, an deren Heck das alte kaiserliche schwarzweißrote Banner mit einem kaum merklichen republikanischen Fleck weht. Alles, was sonst Himmel heißt, ist hier in Hamburg – der Rauch der Fabrikschlote, sind die Greifarme der Hebekräne, die die Schiffsbäuche plündern und steinerne Riesenkästen auffüllen; leichte, flüchtig geneigte Brücken über decken die nasse Geburtsstätte der neu erstandenen Schiffe. Heulen der Sirenen, Fluchen der Pfeifen, Flut 1 und Ebbe des Ozeans, der mit dem Unrat spielt und mit den Möwen, die wie Schwimmhölzer auf dem Wasser tanzen, und – gleichmäßige Würfel dunkelroter, aus Ziegeln gebauter Gebäudekomplexe, Lager, Fabriken, Kontore, Märkte, geradlinig gebaute Zollämter, die aussehen wie eben abgeladene Gepäckstücke. Eine Armee, Legionen von Arbeitern sind in diesen Werften bei dem Laden und Löschen der Schiffe, in den zahllosen Metallwerken, ölverarbeitenden und chemischen Fabriken, in einigen der größten Manufakturen und auf den großen Bauplätzen beschäftigt, die das Hinterland von Hamburg, seinen sumpfigen und sandigen Grund, ununterbrochen mit einer Kruste von Beton und Stahl bedecken.
Die Elbe, dieses alte schmutzige Einkehrhaus für die Vagabunden des Ozeans – baut und erweitert ununterbrochen ihre gewaltigen Betonhinterhöfe.
Hier werfen die Seerosse ihre Last ab, hier fressen sie Naphtha und Kohle, hier reinigen und waschen sie sich, während die Kapitäne dem Zollamt die Schmiergelder zahlen, die Papiere richtig zugestutzt werden und die Barbiere ihr Verschönerungswerk an den Gesichtern der Schiffsgewaltigen vornehmen. Diese gehen dann zu ihren Familien an Land, indes die Mannschaft im Stadtviertel der Kneipen, der Kleiderbuden, der Versatzämter, wo der eben gekaufte Anzug sofort versetzt werden kann, und endlich der erstaunlichsten Bordelle – in Sankt Pauli untertaucht.
Noch vom Mittelalter her sind die Gassen von Sankt Pauli von der Stadt durch feste eiserne Tore abgegrenzt, die nur des Nachts geöffnet werden. Sie sind schön gearbeitet mit allen möglichen Raffinessen und hübschen Details, mit denen ein stolzes Zunfthandwerk seine Embleme und Ehrenzeichen zu schmücken liebte. Des ,Abends öffnet sich in jeder auf die Gasse hinausgehenden Tür ein kleines erleuchtetes Fenster,‘ aus dem die Königinnen dieser Matrosenparadiese lächelnd in die ewige regnerische Dunkelheit hinausblicken. Sie stecken in tief ausgeschnittenen, an der Taille eng zusammengerafften, mit Flitterwerk und Federn benähten Kleidern, mit denen die Mode aus dem Ende des letzten Jahrhunderts, die nur noch in den Anpreisungen der billigen Parfümerieartikel und in der Vorstellung der nach dem Weibe ausgehungerten Matrosen fortlebt – die Verkörperung der höchsten Lebensfreude zum Ausdruck zu bringen pflegte.
In diesen Handelsreihen wird lebendiges Fleisch mit ungekünstelter Schlichtheit verkauft. Die Besucher gehen von einem Schaufenster zum nächsten, besehen sich die ausgestellte Ware und treten ein, um nach einer Weile, von schweren . Flüchen und lautem Lärm begleitet, auf das Straßenpflaster hinauszufliegen: Sankt Paulis Torhüter sind ihrer körperlichen Kräfte wegen weit und breit berühmt.
In den kleinen Kneipen dieser Vorstadt klingen alle Sprachen und vermischen sich alle Nationen. Witz, Eiergrog, völlige Unantastbarkeit von Seiten der Polizei, ein erstaunliches Gemisch von Mut, Alkohol, revolutionärer Entflammbarkeit, Tabaksrauch herrschen hier und – vor allem – die letzte, verwelkte, hoffnungslos gefallene Sünde, die an einem mit saurem Bier begossenen Tisch einem betrunkenen namenlosen Adam für ein Butterbrot die göttlichste der Lügen – die Liebe vortäuscht
Die Sprache, die hier gesprochen wird, ist die Sprache Hamburgs. Sie ist durch und durch mit der See gesättigt und salzig wie ein Klippfisch; rund und saftig wie ein holländischer Käse, derb, gewichtig und munter wie englischer Schnaps; glatt, reich und leicht wie die Schuppen eines Tiefseefisches. Und nur der Buchstabe „S“, spitz wie eine Nadel, anmutig wie ein Schiffsmast, zeugt von der alten Gotik Hamburgs, von den Zeiten der Gründung der Hansastädte und dem Piratentum der Bischöfe. Nicht nur das Lumpenproletariat – die ganze Stadt ist durchsetzt von dem lebendigen, beweglichen Geist des Hafens. Von allen Seiten umschließt sein dichter Ring die bürgerlichen, um die Alster gelegenen Viertel. Die Villen sind dicht ans Ufer gedrängt, sie haben kaum den nötigen Raum, um ihre schmucken Gärten, die mit ihren Blumen, Tennisplätzen, Treppenfluten geschmückt sind, zu entfalten.
Die Häuser der Patrizier spüren in ihrem Nacken den unsauberen, erregten Atem der Vorstädte. Der Ring der elektrischen Bahnen spannt die gedrängten Vorstädte eng um die eleganten Viertel; zweimal am Tage saust der trübe Strom der Arbeiter, die Stadt nach den Docks zu durchquerend, die Wagen mit dem Geruch von Schweiß, Teer und Alkohol erfüllend, um ihre Villen.
Auf diese Weise gehorcht ganz Hamburg ebensosehr der Mittagssirene der Werften, dem morgendlichen und abendlichen Namensaufruf an den Ufern der Elbe, wie die kleinste Pfütze, ein armseliger Froschteich, dem fernen Pulsschlag des Ozeans gehorcht, der Hamburg seine Reichtümer und seine unermüdlichen Winde schickt. Der Bourgeois, der ehrbare Bürger, ist ebensowenig wie seine Wohnung gegen die Berührung und die Nachbarschaft der Proletarier gesichert. Die Dame, die abends ins Theater fährt, sitzt zwischen zwei Dockarbeitern eingezwängt, die ihre öligen Säcke in aller Gelassenheit auf die weichen Sitzbänke niederlegen.
Die Dirne aus Sankt Pauli sitzt neben der Gattin eines Beamten, zwinkert den Nachbarn zu und steigt an der nächsten Haltestelle aus – schon am Arm irgendeines von ihnen; der Arbeiter umarmt seine Frau oder seine Freundin; der Löscharbeiter umwölkt seine Nächsten mit seinem unmöglichen Tabak; Freunde schleppen einen betrunkenen Matrosen nach Hause, und der ganze Wagen amüsiert sich mit ihnen, denkt, spricht und lacht im reinsten Hamburger Platt, das geeignet ist, jeden beliebigen Ort sofort in eine lustige Hafenkneipe zu verwandeln. Von unserem Gesichtspunkt aus betrachtet, scheint das alles nicht sehr wichtig. Aber nach Berlin, wo der Arbeiter mit seinen Instrumenten nur in einem besonders schmutzigen und unsauberen Wagen fahren darf, wo das Vorrecht der Ersten und Zweiten Klasse nahezu- mit polizeilichem Aufgebot verteidigt wird; wo der Arbeitslose, sich seine vor Kälte violetten Ohren reibend, es kaum wagen darf, sich auf einer der zahllosen, stets leeren Bänke des Tiergartens auszuruhen; nach dem offiziellen bürgerlichen Berlin riecht allein schon die Luft von Hamburg mit seiner Einfachheit und seinen freien Sitten nach Revolution.
Um vier oder fünf Uhr nachts schläft das Lumpenproletariat dieser Stadt an irgendeinem beliebigen Platz oder wird auf die Polizeiwache geschafft.
Ein Viertel vor sechs, noch bei elektrischem Licht, setzt die erste Arbeiterflut ein.
Über der Straßenbahn hängt in der Dunkelheit die Stadtbahn, kurze, leuchtende Bänder der elektrischen Züge der Hochbahn winden sich über dieser, und alle zusammen schaffen eine ganze Armee, Hunderttausende von Dockarbeitern und weitere Hunderttausende von Arbeitslosen, die, in der Hoffnung auf einen gelegentlichen Verdienst, die Anlegestellen umlagern, zum Hafen. Jeder Trupp sammelt sich um seinen Meister, zwischen den geteerten Jacken, höckrigen, mit Werkzeug beladenen Schultern leuchtet wie bei Bergarbeitern das Öllämpchen. Nach dem Namensaufruf verteilen sich die Arbeiterregimenter auf Hunderte von Dampfern, die sie in die Werften und Betriebe bringen. Durch vier Brücken strömen sie in das Industriezentrum. Truppen und Polizei passen scharf auf, daß kein einziger „Zivilist“ auf die Industrieinseln dringt. Aber auch diese Brücken und Hunderte von Dampfern, die mit ihren Lichtern und Scheinwerfern einen unerhörten Karneval, ein schwarzes, geteertes Venedig aufführen, genügen der Flut der Morgenschicht nicht. Tief unter dem Elbgewässer liegt ein trockenes, helles Rohr, der Elbtunnel, der morgens und abends Legionen von Arbeitern von Ufer zu Ufer pumpt.
An beiden Enden dieses Tunnels heben und senken sich Riesenlifts und werfen den Strom zu den Betonausgängen.
In ihren eisenknarrenden, schraubenförmigen Türmen bewegen sich diese beiden Lifts wie zwei mächtige Schaufeln, die unausgesetzt lebendiges Heizmaterial in die zahllosen Fabriköfen schleudern. Aus ihren Essen kam der Hamburger Aufstand.
***
Dieser Essay erschien vor 80 Jahren in Hamburg auf den Barrikaden. Erlebtes und Erhörtes aus dem Hamburger Aufstand 1923
Larissa Reissner war die Tochter des deutschstämmigen Rechtswissenschaftlers Michail Reissner, der 1896 aus Russland emigrieren musste, nachdem er ein juristisches Gutachten zugunsten von Revolutionären verfasst hatte; ihre Mutter hieß Jekaterina Alexandrowna Chitrowa. Larissa besuchte Schulen in Frankreich und Deutschland. Durch ihren Vater lernte sie schon als Kind August Bebel, Karl Liebknecht und auch Lenin persönlich kennen. 1906 kehrten sie nach Russland zurück. Als Kriegsgegnerin beteiligte sie sich während des Ersten Weltkriegs an der antimilitaristischen Zeitschrift ihres Vaters und arbeitete an verschiedenen Projekten Maxim Gorkis wie der Literaturzeitschrift Letopis und nach der Februarrevolution 1917 an der linkssozialistischen Tageszeitung Nowaja Schisn mit.
Larissa Reissner nahm aktiv an der Oktoberrevolution teil und trat im Sommer 1918 in die bolschewistische Partei ein. Sie diente in der Roten Armee und der Marine und war 1919 mehrere Monate lang Kommissarin des Generalstabs der Roten Flotte. Während ihrer Tätigkeit als Kundschafterin geriet sie einmal in Gefangenschaft. Ihre Schriften über den Bürgerkrieg enthalten einen Bericht über die Schlacht bei Swijaschsk.
1918 heiratete sie den sowjetischen Flottenkommandeur Fjodor Raskolnikow. Im September 1923 lernte sie Karl Radek kennen, mit dem sie bis zu ihrem frühen Tod liiert war.
In den frühen 1920er-Jahren bereiste Reissner sowohl die Sowjetunion als auch das westliche Ausland und fasste ihre Erlebnisse in Reiseberichten zusammen, deren bekanntester Hamburg auf den Barrikaden ist, eine Sammlung von Reportagen über den Hamburger Aufstand 1923. Nach dessen Niederschlagung kehrte sie in die Sowjetunion zurück und untersuchte die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse im Ural. Im Jahr 1925 versuchte sie ihre ständig wiederkehrenden Malariaanfälle im Wiesbadener Neroberghotel auszukurieren.
Im Alter von 30 Jahren starb sie am 9. Februar 1926 in Moskau einem Moskauer Krankenhaus an Typhus.
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