Rezensenten sind literarische Polizeibeamte.
Novalis
Es gereicht Rezensenten, sie mögen nun Bücher, Menschen oder Verhältnisse beurteilen, zum größten Ruhme, wenn sie wie die Spartaner leben, nur Kupfergeld besitzen und schwarze Suppen essen; denn wer Vertrauen braucht, erhält es nur, wenn er sonst nichts braucht, und nur wer die Menschen entbehren gelernt, darf sie belehren. Aber schreiben dürfen die Rezensenten nicht wie Spartaner. Sie sind Richter; sie müssen also freisprechend oder verdammend ihre Entscheidungsgründe angeben, und das klar und umständlich. Tun sie dieses nicht, begnügen sie sich zu sagen: das ist gut, das ist schlecht – so kann ihnen jeder Leser mit Recht bemerken: das weiß ich ohnedies, das sagt mir mein Gefühl; du aber sollst mir mein Gefühl deutlich machen und mir erklären, warum dieses gut, warum dieses schlecht sei. Gegen die Lakonismen mancher Kritiker wollen wir etwas eifern und bei dieser Gelegenheit noch einiges andere berühren, was auf unserm Wege liegt. Sie verdienen um so mehr Vorwürfe, da Schriftsteller in unsern Tagen gar nicht nötig haben, so ängstlich auf Kürze bedacht zu sein; für das Erforderliche hierin sorgen schon andere Leute.
Da sind zuerst die Kritiker der Büchertitel. Manchmal fehlt in einem Titel ein ablatives E, manchmal ein Komma, manchmal das multiplizierende N. Mikroskopische Rezensenten bemerken diese Mängel und schieben das fehlende Komma hinein, und zwar behutsam in einem Parenthesenfutterale gesteckt, damit die kostbare Verbesserung nicht beschädigt werde. Wie kann ein Rezensent, der nur etwas menschliches Gefühl hat, so hart sein, den Titel eines Buches zu kritisieren? Ist er nicht selbst Mensch? Ist er nicht selbst Schriftsteller? Denkt er nicht mehr an jenen Tag, da er das Werk, woran er zehn Jahre gearbeitet, zu Ende gebracht und den Titel niedergeschrieben? War er nicht selig an diesem Tage? Hatte ihn nicht der Gedanke berauscht: heute habe ich auf meinen Todesfall gesorgt, heute habe ich meine Unsterblichkeit in die Witwenkasse gebracht? War er an jenem Tage fähig, auf ein Komma zu achten? Fürchtet aber der Rezensent, das fehlende Komma könne die Schuljugend verführen, so verbessere er es im stillen; der Schriftsteller wird dann den bescheidenen Vorwurf gerührt annehmen und dem Rezensenten bei nächster Gelegenheit die Hand drücken. Überhaupt ist es kleinlich, in einem Buche die Sprachfehler zu rügen. Man kann annehmen, daß in der Regel jeder Schriftsteller grammatisch richtig zu schreiben weiß und daß er Sprachfehler nur aus Übereilung begeht. Es sind aber nicht immer die schlechtesten Werke, die in der Eile geschrieben werden. Ich war einmal dabei, als der verstorbene berühmte PhysikerRitter eine ungeheure hohe galvanische Säule aufrichtete, mit der man ganz Deutschland hätte sanguinisieren können. Ritter brachte aber nur Krebse und Frösche in ihren Wirkungskreis und stellte Versuche an. Zu gleicher Zeit schrieb er seine Beobachtungen nieder, und indem er dies tat, stand ein kleiner untersetzter Druckerjunge ganz verdutzt am Fuße der Säule und wartete aufs Manuskript. Daß Ritter, wie es die Physiker manchmal tun, die Natur auf die Folter gespannt und ihr Bekenntnisse abgepeinigt, die sie oft wieder zurücknimmt – das gehört nicht hierher. Nur so viel ist daraus zu entnehmen, dass unter solchen Umständen Ritter nicht an jedes Komma denken konnte.
Als kritische Lakonismen sind auch die Frage- und Ausrufungszeichen zu tadeln, welche Rezensenten und Redakteurs zuweilen in die ausgezogenen Stellen der beurteilten Schriften und in die Aufsätze ihrer Mitarbeiter hineinbringen. Wenn ein Rezensent oder ein Redakteur sich über etwas wundert oder etwas bezweifelt, dann soll er dieses deutlich heraussagen und es nicht bloß pantomimisch zu erkennen geben. Ein solches Ausrufungszeichen gleicht dann dem Spieße eines Dorfwächters, welcher die Dienste seines in die Schenke desertierten Herrn übernommen. Ein treuer Rezensent darf sich aber nicht auf seinen Spieß verlassen, sondern er muß selbst Wache halten und jeden Einpassierenden fragen: woher? wohin? in welchen Geschäften? oder was sonst ein Literaturwächter zu fragen hat. Das schlimmste hierbei ist, daß die Leser nicht immer merken, daß der Kritiker oder Redakteur das Ausrufungs- und Fragezeichen dazwischen gesetzt, sondern glauben, es gehöre zum Texte. Sie müssen sich dann sehr verwundern, daß der Verfasser sich über seine eignen Behauptungen wundert und einen Satz, den er eben erst mit Bestimmtheit ausgedrückt, wieder in Zweifel stellt. Diese Verwirrung kann aber einem Schriftsteller nicht gleichgültig sein. Welcher, der Weib und Kind hat, wird es wagen, drucken zu lassen: »Der korsische Tyrann hielt die Welt in Banden, sein Sturz befreite sie« – wenn er befürchten muß, daß ihm seine gute Gesinnung vergiftet werden könne, indem der Rezensent oder der Redakteur ein arsenikalisches Ausrufungszeichen in den Satz bringt? Kann der Redakteur seine Verwunderung oder seinen Zweifel nicht unterdrücken, so bringe er seine Hieroglyphen in das Unterhaus der Noten, wo sie als Opposition hingehören. Er darf also nicht schreiben: »Der korsische Tyrann hielt die Welt in Banden, sein Sturz befreite(!) sie«, sondern er muß drucken lassen: »Der korsische Tyrann hielt die Welt in Banden, sein Sturz befreite sie.«
»Ohe jam satis est!«… ich sage das nicht; bewahre der Himmel, denn ich bin noch nicht fertig. Und wäre ich fertig, würde ich dieses auf eine feinere Art zu verstehen geben, nämlich, indem ich aufhörte. Es gibt aber Rezensenten, die, wenn sie nichts mehr zu sagen wissen oder müde sind oder kein Papier mehr haben, ausrufen: »Ohe jam satis est!« oder »Eheu jam satis est!« Aber ohe und eheu und alle solche Interjektionen (oder Empfindungslaute, wie man sie während des Befreiungskriegs in den deutschen Frauenvereinen nannte) sind sehr, sehr häßlich. Es liegt eine Verachtung darin, die auch der schlechteste Schriftsteller nicht verdient. Man soll zwar einen schlechten Schriftsteller nicht schonen, man soll ihn töten – sotaner Schaden ist nicht groß; aber man soll ihn hinrichten, nicht zerfetzen. Ein solcher gefühlloser Empfindungslaut ist auch das sic, das, obzwar eine Konjunktion, doch oft in Rezensionen als Interjektion gebraucht wird. Was heißt sic? Wer den großen Scheller bei der Hand hätte, worin alle Farbenabstufungen des sic stehen, der kann sich freilich erklären lassen, was der Rezensent in jedem einzelnen Falle unter sic verstand; wer aber auf dem Rigi eine deutsche Renzension liest, wie soll der sich helfen? das sic ist oft rätselhaft. Also keine sic’s, sondern frei heraus mit der Sprache, wie es einem deutschen Manne geziemt. Man kann wohl lateinisch beten, denn der liebe Gott versteht alle Sprachen; aber lateinisch kritisieren soll man nicht.
Endlich sind auch die kritischen Mottos zu rügen, die sibyllenartig in Versen ihre Meinung sagen. Es gibt nämlich deutsche Tageblätter, die jeden Tag mit einem andern Motto erscheinen. Das Motto ist gleichsam die Aurora, die jeden Morgen und das Blatt verkündet, das der Morgen bringt. Die eigentliche Bestimmung dieser Mottos ist, mit den Aufsätzen, welche zuoberst im Blatte stehen, in Verbindung zu treten. Sie müssen also im Geiste dieser Aufsätze gewählt sein. Die Redaktionen aber vergessen dieses oft und erlauben sich in den Mottos Aufsätze zu kritisieren. Dieses mag lobend oder tadelnd geschehen, so ist es immer zu rügen. Das Motto soll nicht wie ein Portier sein, der den Eintretenden grob oder artig behandelt, je nachdem er bei dem Hausherrn mehr oder weniger beliebt ist. Der Redakteur darf seine Finger nicht zwischen den Baum und die Rinde stecken, das heißt: er darf sich nicht zwischen den Leser und den Mitarbeiter stellen. Freilich kann der Fall eintreten, daß die Redaktion mit den Ansichten eines ihrer verehrten Mitarbeiter nicht einverstanden ist; aber darum darf sie sich an dem verehrten Mitarbeiter nicht reiben, sie darf ihn nicht als Probierstein benutzen, die Goldhaltigkeit ihrer eignen Gesinnung darzutun; sie hat andere Gelegenheiten genug, ihre 24 Karate zu beweisen. Gibt es denn etwas Komischeres, als wenn das Motto gerade das Gegenteil sagt als der Aufsatz, zu dem es gehört – wenn es gleichsam vorausläuft und den Lesern zuruft; dahinten kömmt ein Herr, der will euch etwas erzählen, glaubt ihm nicht, er lügt! So habe ich neulich in einem solchen Blatte einen Aufsatz gelesen, dessen Verfasser sich die undankbare Mühe gab, den Deutschen über ihren lächerlichen Judenhaß etwas die Wahrheit zu sagen. Das Motto zu jenem Aufsatze lautete (in Versen) ungefähr: »Vernichtung nur ist euer Los. Frieden ist euch hienieden nicht beschieden.« Wäre ich der Verfasser jenes Aufsatzes, hätte ich der Redaktion gesagt: »Mit diesem Motto bin ich gar nicht zufrieden, und von nun an sind wir geschieden. Ein gewissenhaftes Motto darf kein Gewissen haben; es muß heute demokratisch, morgen aristokratisch gesinnt sein. Ein weltkluges Motto muß sich zum Motto wählen: ›Vive le roi! Vive la ligue!‹«
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Obwohl die nonkonformistische Literatur ehrlich und transparent zugleich sein wollte, war gegen Ende der 1960er nur schwer zu fassen, die Redaktion entdeckt die Keimzelle des Nonkonformismus in der die Romantiker-WG in Jena. Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.