Sebald • Revisited

Eine der in der Salle des pas perdus wartenden Personen war Austerlitz, ein damals, im siebenundsechziger Jahr, beinahe jugendlich wirkender Mann mit blondem, seltsam gewelltem Haar, wie ich es sonst nur gesehen habe an dem deutschen Helden Siegfried in Langs Nibelungenfilm. Nicht anders als bei all unseren späteren Begegnungen trug Austerlitz damals in Antwerpen schwere Wanderstiefel, eine Art Arbeitshose aus verschossenem blauem Kattun, sowie ein maßgeschneidertes, aber längst aus der Mode gekommenes Anzugsjackett, und er unterschied sich auch, abgesehen von diesem Äußeren, von den übrigen Reisenden dadurch, daß er als einziger nicht teil­nahmslos vor sich hin starrte, sondern beschäftigt war mit dem Anfertigen von Aufzeichnungen und Skizzen.

W. G. Sebald · Austerlitz

Better late than never

Als ich, das war im De­zember 2001, die Nachricht vom plötzlichen Tod W. G. Sebalds sowie die Beschreibung des Unglücks auf einer englischen Autobahn in irgendeiner Zeitung lese: W. G. Sebald suffered a heart attack while driving and was killed, der Zufall weht mir das Blatt in einem Zugabteil auf der Fahrt von Köln nach Sistig/Eifel zu, habe ich noch kein Buch von ihm gele­sen. Gehört habe ich natürlich schon einiges von diesem in England lebenden deutschen Schriftsteller und mir seit längerem vorge­nommen, den hier­zulande in den 1990er Jahren erst einem breiteren Leserkreis bekannt gewordenen, auch im angloamerikanischen Raum hochge­rühmten, mit etlichen Preisen geehrten Autor endlich kennen­zulernen. Dabei bleibt es bis zu Sebalds Tod.

Am Tag nach der Zeitungslektüre – better late than never – besorge ich mir als erstes das 1992 erschienene Buch Die Ringe des Saturn, dessen Rahmenhandlung eine mehrwöchige Wanderung des Erzählers durch die violetten Heidelandschaften Suffolks ist und das durch die einge­fügten Bilder zusätzlich dokumentarischen Charakter (mit durchaus doppeltem Boden, denn auch – oder gerade – Bilder können in die Irre führen) erhält – wie alle Prosawerke Sebalds, von dem mit Nach der Natur. Ein Elementarge­dicht (das literarische Debüt, das 1988 – zwei Jahre vor dem ersten Buch mit Erzählungen Schwindel. Gefühle. erschien), Über das Land und das Wasser sowie Unerhört. 33 Texte drei Gedichtbücher vorliegen, deren atmosphärische Dichte ich während der Lektüre von Über das Land und das Wasser in einer Weise erlebe, die mich einmal wieder alles um mich herum vergessen läßt.

Das sind wirklichkeitsgesättigte Betrachtungen, Erlebnisse, Gedanken, Empfindungen, Erinnerungen, Reflexionen, Wahrnehmungen in zumeist narrativ angelegte, ironisch grundierte Gedichte verwandelt, in denen das Große und das Kleine immer wieder eins werden, ganz wie im richtigen Leben: Die Chantréflasche macht / die Runde & von einem / Wahlplakat an der Litfaßsäule / blickt der Vater der / deutschen Nation in / sein wiederver / einigtes Land. Wenn ich das Enjambement in manchen Fällen nicht unbedingt immer nachvollziehen kann, an einer Stelle könnte es einschneidender nicht montiert werden: wiederver / einigtes Land – das haut voll und tief rein, da bleibt mir kurz die Luft weg, und nicht nur hier zeigt Sebald, wo Bartel den Most holt. Und wenn ich mich mal wieder nach dem Sinn des Lebens frage, werde ich, statt mühselig nach einer weiteren Antwort zu suchen, das Gedichtbuch Sebalds auf Seite 85 aufschlagen, um zum wiederholten Male das Ende von In der schlaflos / verbrachten Nacht lesen: & irgendwo / in der Gegend von / Osnabrück oder / Oldenburg auf einem / Grasplatz vor einem / Gehöft eine einsame / Gans die langsam / den Hals wendet als / sie den Intercity / vorbeirauschen sieht.

Idiosynkratisch

In Die Ringe des Saturn werde ich unmittelbar mitgerissen von einem Autor, der es versteht, vom ersten Wort an eine enorm dichte, gleichzeitig warmherzige Atmo­sphäre in hypotaktisch, gleichsam weltum­schlingend organisierte Sätze zu bannen, aus deren idiosynkratischer Struktur ich die produkti­ve Einwirkung englischer und jiddischer Syntax, aber auch Johann Peter Hebels, Franz Kafkas, Gott­fried Kellers, Heinrich von Kleists, Robert Walsers und Thomas Bern­hards herauslese.

Ohne den Namen des Verfassers auch nur einmal zu benennen und das Geheimnisvolle der argentinischen Erzählung durch diese List noch verstärkend, assoziiert der buchstäblich alle Dinge des Daseins bis ins Detail beobachtende, registrie­rende, reflektierende, ergründende hochgebildete Erzähler von Die Ringe des Saturn einen als nicht geheuer empfundenen Moment einer Wanderung am Meer entlang – er steht auf einer von Nistlöchern perfo­rierten Klippe – mit Jorge Luis Borges’ my­steriöser Geschichte Tlön, Uqbar, Orbis Tertius.

Ab und zu ein Wölkchen

Als ich nach verschiedensten kurzen und weiten Reisen des Erzählers durch die ganze Welt und deren monströse Geschichte schließlich mit dem Autor im Garten Michael Hamburgers sitze, dem deutschstämmi­gen englischen Dichter, der bis zum Tod am 7. Juni 2007 in dem kleinen Dorf Middleton lebt, bin ich längst und unwiderruflich zum glü­henden Verehrer W. G. Sebalds gewor­den.

Ich war dankbar, mich in dem stillen Garten ausruhen zu können von den Irrgängen auf der Heide, die mir jetzt, da ich von ihnen erzählte, unwillkür­lich den Charakter des bloß Erfundenen anzu­nehmen schienen. Michael hatte einen Topf Tee herausgebracht, aus dem ab und zu ein Wölkchen auf­stieg wie aus einer Spielzeugdampfmaschine. Sonst rührte sich nichts, nicht einmal die grauen Blätter der in dem Wiesengrund jenseits des Gartens ste­henden Weiden. Wir unterhielten uns über den leeren und lautlosen Monat Au­gust. For weeks, sagte Michael, there is not a bird to be seen. It is as if eve­rything was somehow hollowed out. Alles ist kurz vor dem Niedersinken, nur das Unkraut wächst weiter, die Ackerwinden erwürgen die Sträucher, die gelben Wurzeln der Brennesseln kriechen unter der Erde fort, die Klet­tenstauden überragen einen um Haupteslänge, die Braunfäule und die Mil­ben breiten sich aus, und sogar das Papier, auf dem man mühselig Wörter und Sätze aneinanderreiht, fühlt sich an, als sei es vom Meltau überzogen.

Ich lese, wie Hamburger dem befreundeten Sebald erzählt, daß er als klei­ner Junge im Jahre 1933 aus Ber­lin flüchtet und so – wie so viele an­dere Menschen – um eine Kindheit im eigentlichen Sinne betrogen wird (ein­schließlich der beiden Wellensitti­che, die die englischen Zöll­ner der jüdischen Fa­milie weg­nehmen) und schreibe im Anschluß an dieses eindringliche Kapitel die folgende Hommage an Hamburger (abgedruckt in meinem 2002 er­schienenen Lyrikband Land Stadt Flucht), die ich ihm und W. G. Sebald widme: vogelvau // die beiden wellenvögel sind / verschwunden / wohin er blickt bloß leere / luft / das kind blieb in berliner / gruft / buchstabenfetzen (immerhin) / gefunden

Austerlitz

In Austerlitz, dem 2001 und damit letzten zu Lebzeiten erschienenen Prosabuch (in dem das ›peri­skopische‹, an Thomas Bernhards idiosynkratischer Schreibart geschulte Erzählen ohne Dialog und direkte Rede genauso dominiert wie in den anderen Prosabüchern), schildert der 1944 in Wertach/Allgäu gebo­rene und bis zum plötzlichen Tod jahrzehntelang in der englischen Stadt Norwich als Literaturprofes­sor lehrende Sebald in der für ihn typisch gewordenen, die Genres gleichsam überschreiben­den, Auto­biogra­phie, Dokumentation, Erfindung, Reisebericht (usw.) – Fakt und Fiktion – ver­schmelzenden (gegeneinander ausspielenden?) Art und Weise das schwierige Leben des als Kind aus Prag nach Groß­britannien verschickten Juden Jacques Austerlitz, der ebenfalls zu denen gehört, die um ihre Kindheit betro­gen werden. Durch mühselige Re­cherchen (in Prag, in Theresi­enstadt, in Paris), die ich als er­schütterter Leser miterlebe, gelingt es Austerlitz, Spuren des Herkommens zu entdecken und den Leidensweg der Mutter nach­zuvollziehen.

Geschichte · Geschichten

Sebald, der unendlich wißbegierige, erkenntnisinteressierte, hochgebil­dete, kämp­ferische Melancholiker, ist Zeit seines Lebens und Schreibens davon ausgegangen, daß die eigentliche Geschichtsschreibung nicht in den Geschichtsbüchern stattfindet, son­dern in den die menschlichen Einzel­schicksale in den Mittelpunkt stel­lenden literarischen Geschich­ten, in denen darüber hinaus die Sprache an sich stets von besonderer Bedeu­tung ist. Auf dieser Überzeugung basiert die erzählerische Grund­struktur dieser Geschichten, deren passionierte Er­zähler annähernd iden­tisch sind mit dem Autor selber und deren Lek­türe zu den leiden­schaft­lichsten und stimmigsten Auseinandersetzungen mit der entsetzli­chen europäi­schen Geschichte des 20. Jahrhunderts gehört.

Luftkrieg und Literatur

Im schroff attackie­renden Essayband Luft­krieg und Litera­tur, de­ssen Schlußfolge­rungen ich nicht immer teile, schreibt Sebald, daß deut­sche Autoren der Dar­stellung des Luftkriegs und den Folgen für die Bevöl­kerung der bombardierten Städte aus dem Weg gegangen sind. Die erschütternden Romane von Dieter Forte, Hans Erich Nossack und Gerd Ledig, die dieses Thema in aller Ausführlichkeit behandeln, benennt er nicht, sie sind ihm wahrscheinlich entgangen.

Ich denke, es handelt sichh hier um existentielle, nicht zu vermeidende  Verdrängungsprozesse. (Auch die jüdische Autorin Ruth Klüger hat ihre Er­innerungen an die Kindheit während der Nazijahre – weiter le­ben – erst 1992 veröffentlichen können.) Günter Grass hat anläßlich der Publika­tion der großartig geglückten Novelle Im Krebsgang (2002), in der der Autor den Untergang der Wilhelm Gustloff literarisch bearbei­tet, Selbstkritik ge­übt: Viel zu spät eigentlich komme dieses Buch. Daß Grass dies vor und nach Erscheinen der Autobiographie Beim Häu­ten der Zwiebel (2006) ebenfalls betont hat, ist be­kannt. Auch die­ses Buch konnte Günter Grass offenbar nicht früher schreiben. Schließlich hat er es ge­schrieben. (Better late than never …)

Unentbehrlich

Winfried G. Sebald – Die Gefahr, daß man den Verstand verliert, ist nicht gering – ist einer der originellsten Stilisten deutscher Sprache und darüber hinaus einer der bedeu­tendsten und engagiertesten literarischen Chro­nisten deutscher bzw. europäischer Geschichte im 20. Jahrhundert. Ich empfinde es als durchaus positiv, einige Bücher Sebalds noch nicht gelesen zu haben: Nach der Lektüre von Auf ungeheuer dünnem Eis. Gespräche 1971 bis 2001 (2011), in denen er sich wiederholt über die von unsichtbarstem Zufall und klitzekleinster Unwägbarkeit bestimmten biographischen, gesellschaftlichen, historischen, kulturellen, politischen Entwicklungen äußert, harren Die Beschreibung des Unglücks. Zur österreichischen Literatur von Stifter bis Handke (1985/1994) mit Essays zu Thomas Bern­hard · Elias Canetti · Peter Handke · Ernst Herbeck · Hugo von Hofmannsthal · Franz Kafka · Gerhard Roth · Arthur Schnitzler · Adelbert Stifter, Logis in einem Landhaus (1998/200), u.a. mit Dichter-Port­räts von Gottfried Keller · Johann Peter Hebel · Eduard Mörike · Robert Walser und der Ge­dichtband Unerzählt. 33 Texte (2003) der baldigen Lektüre (bis auf Unerzählt sind die Titel bestellt und eingetroffen), von der es kein Risiko ist, zu erwarten, daß sie so außergewöhnlich, ›unerhört‹ sein wird wie die der anderen Sebald-Bücher. Bei Greno, Eichborn, Residenz, hauptsächlich jedoch bei Hanser und S. Fischer – bzw. im Fischer Taschenbuch Verlag – sind die außergewöhnlichen, provozie­renden, unentbehrlichen (in zahlreiche Sprachen übersetzen) Bücher erschienen, deren Lektüre ich nach­drücklich empfehle:

Auf ungeheuer dünnem Eis. Gespräche 1971 bis 2001 (2011).

Austerlitz. Roman (2001/2003).

Campo Santo, Prosa und Essays (2003).

Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen (1992/2002).

Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt (1995/2001).

Luftkrieg und Literatur. Essays (1999/2001).

Nach der Natur. Ein Elementargedicht (1988/1989/1995).

Schwindel. Gefühle. Erzählungen (1990/2002).

Über das Land und das Wasser. Ausgewählte Gedichte 1964 – 2001 (2008).

Unheimliche Heimat. Essays zur österreichischen Literatur (1991/1995).

 

 

Weiterführend → Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.