Rainer Maria Gassen zugedacht
alpha
Dein Klaglied klingt so wahr, es deutet scharf
die Krise, die du Liebender im Traum
erlittst, der dich so furchtbar stammeln
lässt und sprachlos macht wie nie zuvor;
ein Traum als Elegie der wunden Seele,
die bald gesunden will in Katarakten
zielwärts strömender Erkenntnisse,
in deren Delta deine Liebe schließlich
mit allen Sedimenten des Bewusstseins
strömen darf ins Meer der Läuterung –
es trägt verschiedne Namen: Selbsterkenntnis
oder Selbstannahme: Werde selbst
zum Schlüssel deiner Liebe, liebe dich
zuerst! So kommst du an dein nächstes Ziel.
Zwar führt dich die Geliebte manchmal heimlich,
doch musst du’s selber leisten, brauchst noch Zeit,
musst weg von dir, musst weg von deiner Sturheit,
ein leeres Bild zu lieben statt dich selbst.
Ab und zu gelang es dir, den Traum
zu unterbrechen – denn wenn ihre Hand
geschmiegt in deine war, dann warst du wach.
Doch schliefst du wieder ein und träumtest weiter,
weil dir die Ferne lieber war als Nähe
und du in falscher Selbstverliebtheit dösen
wolltest, aber sie durchschaute dich
und mühte sich geduldig, dir in diesem
heiklen Zustand nicht zu nah zu kommen,
sie liebte dich – du merktest davon nichts.
Bis du endlich spürtest: sie zu lesen,
die Geliebte, hattest du total verlernt;
im schlimmsten Falle hast du nie vermocht,
das Buch der Nähe jemals aufzuschlagen.
Auf dem Gipfel deiner Blindheit warst du
stumm geworden, konntest auch dir selber
nichts mehr sagen in der Ungewissheit
deines Selbst, du lalltest halb betäubt
und sankst noch tiefer in den wüsten Traum,
den Fluchtort deiner Schwäche, deiner Angst –
vor was? vor wem? vor allzu tiefer Nähe?
Oder etwa vor dir selbst, Lord Chandos?
Du stürztest aus dem Traum ins schwarze Loch
von Ohnmacht, Sinnverlust und Amnesie.
omega
Doch wer sich so vergisst, der lernt sich neu
und weiß sich dialektisch aufzuheben –
du brennst und frierst in einem Augenblick
und findest dich und deine Sprache wieder.
Dann bist du auf dem Weg zum Ziel – „ich war nur
mir noch ausgesetzt, als ich erwacht war …“,
stammelst du nun schon viel besser. Aber
ist der Traum denn wirklich schon vorbei?
Kannst du tatsächlich wieder sprechen? Kannst du
dich endlich so begreifen, dass du die
alte Angst in uferlosen Bildern
nicht mehr übermalst …? Nun mal dich selbst,
mein Lord, in deinen Taten wirst du dich
und ihre ganze Liebe restlos finden.
***
Anmerkung der Redaktion: Den Brief, den Philipp Lord Chandos, jüngerer Sohn des Earl of Bath, an Francis Bacon, später Lord Verulam und Viscount St. Albans, schrieb, um sich bei diesem Freunde wegen des gänzlichen Verzichtes auf literarische Betätigung zu entschuldigen lesen sie hier.