Den Mephisto spielt er jeden Abend, eine Privatvorstellung im Freundeskreis. Ohne witzelnde Fußspitzenpose – der Doktor hat Humor, der im Kranichschritt mit dem Schwermutflügel einherschreitet. Wenn er nicht kommt, sind wir alle belämmert; die gretchenblondesten Mädchenköpfe freuen sich, wenn der Mephisto endlich doch kommt. Er versteht Greisengesichtern lächelnde Jünglingsaugen einzusetzen, wenn er bei Laune ist und sein Herz mit übersprudelndem Schalkwillen vorträgt. Wehe aber, wenn er durch die Türe kommt, und sein Hut sitzt schief in die Stirne gedrückt – es regnete –, er konnte heute kein Luftbad nehmen, ein paar Sätze von der Galle, mehr hören wir nicht. Aber seine Galle ist kariert. Nie war ein Hut so mit seinem Kopf verwandt, wie Doktor Blümners Hut. Der ist ein Mime, durchblutet mit den Eigenarten seines Trägers. Unter Hunderten würde ich den Hut des Doktors herausfinden, namentlich aber dann, wenn der Rand seines Panamas lacht; er sitzt rund hinten im Genick. Etwas muß der Doktor heut’ ausführen, ich warte am liebsten mitten im Zimmer, wenn er Klavier spielt, ich kann dann so mit seinen Späßen laufen – er spielt eine eigenvertonte Polonäse, er führt sie an. Seine Finger springen wie ungezogene Jungen über die Tasten, schlagen Kobolz, zanken sich; plötzlich steht er gravitätisch auf: »Der Schlaf erwartet mich!« Aber in Wirklichkeit steht der Vollmond vor seinem Fenster, hinter dem Ohr einen Federkiel. Der Doktor muß noch einen Essay schreiben. Seinen Lehrer im Frühlingserwachen – wer kann ihn je vergessen und die Grazie des Ricco in Minna von Barnhelm. Er ist der Aristokrat des großen Schelmenspiels. Aber auch sehr oft beliebt es dem Doktor, sein ernstes Wesen dem Publikum zu schenken; es steht ihm am besten; kehrt es ein – kommt es hervor aus seinem tiefsten Herzensschatten. In diesem Monat hält der Doktor wieder einen Vortrag, es sind die schönsten Abende, goldene Atrappen mit überraschendem Inhalt. Als er die Geschichte der Schneider von Keller vorlas, glaubte ich, die drei zum Schluß verschwinden zu sehn aus dem Saal. Er machte nämlich auch ein Gesicht, als ob sie ihm weggelaufen wären. In seinem feinen Profil ist seine schöne Nase tragisch geschnitten nach Gemmenart. Das Leben fällt gelassen vor ihm.
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Essays von Else Lasker-Schüler. Mit einer Einbandzeichnung der Verfasserin. Verlegt bei Paul Cassirer in Berlin 1920
Weiterführend → Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.